„Kein Anlaß zum Kulturpessimismus“, Der Tagesspiegel, 31.Juli 1999

Veröffentlicht von Thomas am

Odyssee 2000 – Eine Reise in das nächste Jahrtausend (29): Kultur als Wachstumsfeld

Das Ende der Reinkultur

Kein Anlaß zum Kulturpessimismus: Die Wirtschaft entdeckt die Kultur als Mittel zur Selbstdarstellung – und die Kunst benutzt die Strategien der Wirtschaft

Von Tom Stromberg

„Kunst ist nicht ein Spiegel, den man der Wirklichkeit vorhält, sondern ein Hammer, mit dem man sie gestaltet.“ (Karl Marx)

1.

Am Ende eines Jahrhunderts vom Ende der Kultur zu sprechen, gehört in der (kultur-)politischen Diskussion beinahe schon zum guten Ton. Anzeichen für das drohende Ende der Kultur lassen sich für jedermann an den prominenten, aber auch an den anscheinend unverdächtigen Orten festmachen. Je nach politischer Couleur und ästhetischem Empfinden sind Gral und Tempel entweiht oder the new generation entzaubert und die Speerspitze der Avantgarde gebrochen. Sind die Kulturpessimisten am Werk, kann das Jahrhundert in aller Form abdanken: Wir haben alles gesehen, und das, was wir sehen werden, ist Abklatsch, Eklektizismus, verzweifelte und von vornherein vergebliche Suche nach „der neuen Form“. Von den Kulturoptimisten dagegen hört man wenig. Man weiß auch nicht, ob es sie fern der künstlerischen Produktion gibt. Die Ziffer eines Datums ist ihre Sache nicht, ihre Zeitenwenden finden ohne Zahlen statt, sind mehr geahnt als gesetzt. Vorsätzlich zu tun, was sich an einem „Ende“ schickt, ist künstlerischer Produktion naturgemäß fremd; das Ende ist der fallende Vorhang nach dem Ereignis, jener Moment, in dem die Gegenwart, und das vor allem ist das Metier der Kunst, Vergangenheit wird. Bis dahin ist alles live, danach ist es Geschichte. Das ist am 31. Juli ebenso wie am 31. Dezember eines Jahres, sei es auch ein als „magisch“ bezeichnetes. „Was kommt danach?!“ ist eine Frage, die hier – ob erwartungs- oder endzeitfroh – in einen unwirklichen Raum gestellt wird, in dem Beginn und Ende sich näher sind, als Kalender und Historie es wünschen können.

Werden wir im nächsten Jahrhundert einen neuen Aufbruch der Kultur erleben? Oder einen Umbruch? Das läßt sich allenfalls retrospektiv sagen. Kultur ist Teil eines dynamischen Prozesses, und so wird es auch in Zukunft sein. So banal. Das Verhältnis der künstlerischen Produktion zur Zukunft ist in jedem Fall ein gespaltenes, Prognosen kann es nicht geben: Kultur erneuert Traditionen und bricht sie. In beiden Fällen bezieht sie sich auf die Vergangenheit, um sofort Aktualität zu schaffen. Kulturelle Ereignisse finden fast ausnahmslos in der unmittelbaren Gegenwart statt, im Augenblick, live, an Ort und Stelle, mit den Künstlern und im direkten Gegenüber mit dem Publikum. Theater und Musik aktualisieren sich in jeder Aufführung aufs Neue, doch sämtliche Aufführungen haben Anfang und Schluß – selbst wenn sie 19 Stunden dauern. Der Rest ist das Danach – bis zur nächsten Aufführung, zum nächsten Konzert, zum nächsten Buch, zur nächsten Ausstellung.

2.

Kein Wort hat in diesem Jahrhundert einen vergleichbar prägnanten Einzug, ja Siegeszug angetreten wie das Wort „Kultur“. Firmenkultur, Spielkultur, Streitkultur, Teamkultur, Alternativkultur, Gegenkultur, Dienstleistungskultur, Stadtkultur, Fahrkultur, Eventkultur, Fernsehkultur, Diskurskultur, Erinnerungskultur, Fan-Kultur, Online-Kultur, Subventionskultur, Kampfkultur…

Während in dieser Kulturen-Kultur einerseits immer „neue Kulturen“ entstehen, hat andererseits eine komplett ausgedient: Die Reinkultur. In dieser aseptischen Form ist das künstlerische Ereignis kaum noch zu haben. Immer eingebettet in einen in etwa entsprechenden oder konstruierten Rahmen, ist das Ereignis nun immer „Event“. Keine Großbaustelle, die nicht mit einem Tanzfestival im Rohbau aufwartet, die nicht mit einer Lichtinstallation am Kranausleger und Busrundfahrten das Alltägliche zum Erlebnis macht. Konnte ein Ereignis noch für sich stehen, verstören und durch seine Authentizität bisweilen betören, funktioniert das „Event“ nur als Teil einer Gesamt-Inszenierung, die auch anderem dient. Ob dem Vergnügen und der Unterhaltung („Entertainmentkultur“) oder dem wirtschaftlichen Interesse von Auftraggebern und ihrem Product Placement („Strategiekultur“). Die Tatsache, daß diese Entwicklung keine Regression ist, sondern ein Zeichen von Konjunktur, wird noch einige Zeit der Gewöhnung erfordern. In der Zwischenzeit lassen sich zwei bemerkenswerte – und praktisch zeitgleiche – neuere Entwicklungen ausmachen.

Zum einen haben die führenden Unternehmen der Wirtschaft erkannt, daß es nicht mehr ihr Produkt ist, das sie in ihrer Werbung in den Vordergrund stellen können. Vielmehr geht es darum, sich der potentiellen Zielgruppe via Identifikation mit dem „Lebensgefühl“, das das Produkt vermitteln will, zu versichern. Dazu bedarf es einer Ansprache, deren Mechanismen man nicht neu erfinden kann. Dessen muß man sich im Vorhandenen bedienen, und was liegt also näher, als den potentiellen Kunden über seine „kulturelle Identität“ zu erreichen. „Event-Marketing“ ist das Zauberwort, und ob es die Einführung einer neuen Automarke mit einer Avantgarde-Theatertruppe ist oder der Choreograph, der Schuhwerbung zu einem visuellen Erlebnis zu machen imstande ist: Ein Live-Ereignis, präsentiert vom Seller für den Besteller, garantiert Bestseller und die feste Bindung an ein neues Publikum, vulgo Käuferschaft. „Die Kunst braucht keinen Sponsor. Der Sponsor braucht die Kunst“ – mit diesem Satz wirbt nicht ein Galerist oder Intendant, sondern eine Bank bei einem Festival. Sie begründet damit nicht nur ihr Engagement für die Kultur, sondern gibt vor allem zu erkennen, wer angesprochen ist – und welcher Hilfe sie bedürftig ist. Die Professionalisierung des Managements der größeren Unternehmen in Fragen der Kunst und die Anerkennung der künstlerischen Produktions- und Denkweisen als Vitaminspritze für das eigene Tun sind Zeugen eines bilateralen Prozesses. Es ist, Walter Benjamin zufolge, von jeher Aufgabe der Kunst, eine Nachfrage zu erzeugen, für deren volle Befriedigung die Stunde noch nicht gekommen ist. Bessere Advokaten für ihre eigenen – im Prinzip ja gleichlautenden – Ziele können Unternehmen sich schwerlich wünschen. Sie sind also gut beraten, lassen sie die Dramaturgen des ältesten Gewerbes der Welt – dem Machen von Veranstaltungen – in ihre Darstellung eingreifen und die Künstler gestalten. Ohne Not ohne Vorurteil wird dieser Ball aus der Wirtschaft an die „Macher“ zurückgespielt, die ihn aufnehmen. Oder besser gesagt: die ihren Pass von der anderen Seite her längst vorbereitet haben.

Zum anderen nämlich machen sich – während die Wirtschaft Kultur als unverzichtbaren Beitrag für ihre (Selbst-) Darstellung entdeckt hat –die Künstler – wie gesagt zeitgleich – die Praktiken, Techniken und Strategien der Wirtschaft, der Werbung und des öffentliche Lebens zu eigen. Sie haben längst ihr angestammtes Terrain verlassen und auch ihre – zurecht lange gehegte – Zurückhaltung gegenüber dem „Kapital“ aufgegeben und ihrerseits mit kreativer Energie aufgeladen.

3.

Allem Endzeitgeläute zum Trotz verteidigt die Kunst ohne Rücksicht auf alle postmodernen Intermezzi den Anspruch, die aufmerksamste Seismographin zukünftiger gesellschaftlicher Entwicklungen zu sein; das utopische Potential der Kunst ist nach wie vor Legitimation und Gütesiegel kreativer Prozesse und künstlerischer Aktionen. Das Kommende zu ahnen und das scheinbar Unerfüllbare immer weiter zu wünschen sind Eigenschaften der künstlerischen Produktion. Damit ist sie elitär, und das ist immer ihre Rettung. Resistent gegen eine „Kultur für alle“ im Dienste des demokratischen Versuchs einer Öffnung, erfreut sie sich an einem Mehr an Interesse und hat durchaus nichts dagegen, wenn die Zahl derer, die von ihr abhängen – ob ideell oder materiell – beständig wächst und sich mit Leichtigkeit zwischen „Faust“ und Fußballplatz bewegt und dennoch immer kritischer wird.

Die Kulturpessimisten vor diesem Jahrhundertwechsel nehmen ihren Anstoß daran, daß die junge Künstlergeneration das Live-Erlebnis und das Ereignis in den Vordergrund stellt. Künstler kochen in Museen für die Besucher, betreiben Restaurants auf Zeit, eröffnen Agenturen, Bars und Musikklubs und gründen Parteien. Dabei werden die verschiedenen Felder der künstlerischen Produktion immer stärker gleichzeitig bestellt und die Grenzen zwischen den Sparten aufgehoben. Und schließlich werden die Schranken geöffnet, die den künstlerischen Raum von der Lebenswirklichkeit und ihren Ritualen trennen.

Kunst öffnet ihre geschützten Räume, und sie tut das ganz wörtlich. Theater werden in Zukunft ganztägig offen sein und ein Ort der urbanen Kommunikation, Museen werden das ganze Jahr über Bühnen des gesellschaftlichen Lebens sein, die Eröffnungen von Ausstellungen nur ein kleiner Teil davon sein. Verbundtickets mit allen Kulturinstitutionen einer Stadt sind ebenso selbstverständlich wie Miles-and-more-Tickets für die Wiederholungstäter in Sachen Kultur. Die durchgehenden Öffnungszeiten der Orte der Kunst kippen das Ladenschlußgesetz, die beste Bar der Stadt wurde soeben im Kunstverein geortet, und die besten Parties finden, und eigentlich wußten wir das schon immer, in der Abgußsammlung antiker Plastik statt.

Das Ende der Reinkultur ist der Beginn einer wundervollen Freundschaft mit dem Anderen. Dem Ereignis selbst geht die Kraft dabei nicht verloren, und der Moment, in dem die Bühne den Blick freigibt und die Spannung unerträglich wird, wird an Faszination nicht verlieren. Die Sekunde, in dem sich das Unmögliche plötzlich ereignet, und die Sekunde, in dem alles scheitert, sind die Momente, die sich nur live erleben lassen, die sich jedem Dienst an etwas entziehen und die deshalb unersetzlich bleiben. Eben Kunst.

Der Tagesspiegel, Nr. 16.768, 31. Juli 1999

Kategorien: Veröffentlichungen