Trauerrede zum Tod von Hans-Thies Lehmann
Berlin, den 23.September 2022
Liebe Helene, liebe Gisela, liebe Sandra, liebe Inka,
liebe Familie, liebe Freundinnen und Freunde, liebe Trauergemeinde,
es ist mir eine große Ehre, hier sprechen zu dürfen.
Hans-Thies Lehmann war eine Zeit lang undercover unterwegs.In den 80ern und 90ern kam er ganz unauffällig, aber regelmäßig und zuverlässig zu uns ins Theater am Turm in Frankfurt und hat sich alle Inszenierungen, die es zu sehen gab, angeschaut. Jan Fabre, Heiner Goebbels und Michael Simon, Jan Lauwers, Michael Laub, Reza Abdoh und all die anderen; später dann auch René Pollesch und Stefan Pucher.
Da habe ich ihn kennengelernt. Es war wohl 1988.
Hans-Thies und ich wurden uns nah. Und das, obwohl wir uns außerhalb des Theaters gar nicht so oft gesehen haben. Aber wir haben uns geschrieben, meist, um uns zu verabreden. Das hat allerdings fast nie geklappt.
Hans-Thies schrieb mir zum Beispiel folgende E-Mail:
Hallo, lieberTom,
long time no hear… – Neulich haben Helene und ich von Dir gesprochen, als Laurent hier war. Und jetzt wieder, als ich Jan Fabre getroffen habe. Und jetzt sind wir leider schon wieder im Aufbruch bis Mitte Dezember. Darum wollte ich vorschlagen, dass wir uns verabreden, wenn Du ab 18. Dezember hier in Berlin bist? Oder im Januar? Würde mich sehr freuen. Ich bin ja in letzter Zeit etwas abgetaucht, um einen großen Schritt am neuen Buch zu machen.
Herzlich
Thies
Es kam vor Weihnachten und auch im Januar aber zu keinem Treffen. Es musste erst Ostern werden, bis diese Mail kam:
Danke, Tom, das freut mich wirklich sehr, wenn Du nächste Woche mal Zeit für einen Kaffee hast – gern. Mit Gruß,Thies
Und auch diesen Kaffee haben wir nicht gemeinsam getrunken. Aber es traf ein halbes Jahr später diese Mail ein:
Lieber Tom,
wir sind noch in China. Schöne Sachen zum Einladen gesehen. Bin über diese mail zu erreichen. Wieder in Berlin am 28.10. Treffen?
Liebe Grüße, Thies
Und dann, dann klappte es endlich und ich besuchte ihn in Helenes und seiner Wohnung. Dort gab es zur Feier des Tages diesen chinesischen Rauchtee… eine traditionelle Mischung aus seinem Elternhaus von der Firma »Tee Schrader«, bestehend aus ½ Pfund Lapsang Souchong(das ist der Rauchtee), ¼ Pfund Darjeeling und ¼ Pfund Teespitzen.
Als er merkte, wie widerlich ich den Tee fand, lächelte er und bot mir sofort einen Whiskey an!
Hans-Thies Lehmann wurde oft als der Papst der Theaterwissenschaft bezeichnet. Aber wer will schon Papst sein?
Ich würde ihn, diesen feinen Herrn Lehmann mit dem zarten Händedruck viel lieber als ein
Schwergewicht der Theaterwissenschaft bezeichnen.
Und wenn ich über Schwergewichte nachdenke, kommt mir sofort jemand in den Sinn, mit dem ich Hans-Thies viel lieber vergleiche als mit dem Papst. Muhammed Ali Cassius Clay – ein Schwergewicht – und später auch ein Parkinsonpatient. Weltberühmt waren sie beide, Lehmanns Buch wurde schließlich in 25 Sprachen übersetzt. Leichtfüßig wie Ali war Thies auch – und einer, der mit dem Stift in der Faust die Theaterwissenschaft aufmischte: „Float like a butterfly, sting like a bee…“, Lehmann war der Schmetterlingssammler der jüngeren Theaterszene. Ok. Ali war ein Großmaul – das war Thies nie – Ali war aber auch Pazifist und er wurde mit der Ehrendoktorwürde der Columbia-Universität in New York ausgezeichnet. Und, wissen Sie was: Genau diese Uni hat 2012 eine Liste mit Leseempfehlungen herausgegeben und nun dürfen Sie alle raten, welches Buch auf dieser Liste steht: Das Postdramatische Theater von Hans-Thies Lehmann. Das muss Muhammed Ali selbst veranlasst haben…
Und da sind wir bei seinem Meisterwerk! Dem Rüstzeug für all die großen TheaterkünstlerInnen, die sich das „Post“ auf die Fahne schreiben oder denen er es selbst draufgeschrieben hat. Die Liste ist lang und reicht von
she she pop bis showcase beat le mot,
von gob squad bis castorf,
von pucher bis pollesch,
von andcompany bis needcompany,
von rimini protokoll bis kroesinger,
von schleef bis nel,
von fabre bis lauwers…..usw….usw…
Wie kam es zu diesem Buch? Zur Vorbereitung seines Buches war Hans-Thies viel in Frankfurt im TAT. Vor allem in und nach den Vorstellungen, aber auch auf Proben war er ein gern gesehener Gast! Denn er war kein Besserwisser, kein Kantinenschwätzer, sondern ein Freund der KünstlerInnen. Einer, der genau beschreiben konnte, was er gesehen hatte, und jemand, der anstelle von Kritik immer neue Anregungen und Impulse für die KünstlerInnen parat hatte. Dass Theater umso wichtiger ist, je mehr es sich der Orientierungslosigkeit der Gesellschaft stellt, haben die Gegner seines Buches bis heute nicht verstanden. Auch nicht, dass Bücher wie seine den Leser reicher machen: Nämlich, weil sie am Ende mehr Fragen als Antworten haben.
Hans-Thies hat mit diesem Buch einer Theaterform einen Namen gegeben, die zuvor im diffusen Raum Zuhause war: „Postdramatisch“, inspiriert vom großen Andrzej Wirth. Mehr noch, er hat diese Theaterform durch seinen scharfen Blick und seine kluge Analyse sichtbar, angreifbar und auffindbar gemacht.
Hans Thies war ein wandelnder Geheimdramaturg. Wenn man alles, was er gedacht und geschrieben hatte, als Bedienungsanleitung zum Theatermachen benutzt hätte, wäre man an seinem und am eigenen Anspruch gescheitert. Aber sein Wissen, seine Art zu beschreiben als Begleitheft oder besser als Denkschrift und Leitgedanken mitzunehmen in die folgenden Projekte – welch ein Schatz, welch ein Glück!
Hans-Thies genoss rundum eine große Beliebtheit – diese hatte ihren Grund neben seinem Scharfsinn natürlich auch in seinem Sinn für Humor. Ich erinnere mich an eine Diskussion mit Jan Lauwers als Lauwers sich beklagte, er müsse immer soviel denken und Hans Thies trocken konterte: „Jan, wenn du nicht denken willst, dann spiele doch einfach Sudoku.“
Als ich darüber nachgedacht habe, was ich hier heute über Hans-Thies erzählen möchte, bin ich auf einen Text gestoßen, der viele FreundInnen und KollegInnen von ihm sehr bewegt hat. Es ist ein Text über die Kunst des Nichtverstehens. Hier heißt es am Ende:
„Nicht erst in der (Post-)Moderne ist das Theater der Ort einer Kunst, wo man etwas über das Nichtverstehen erfährt, und zwar in einer solchen Weise, daß nur eine Wahrnehmungweise dieser Erfahrung sich gewachsen zeigt, die nicht die Mühe scheut, sich in der Kunst zu üben, nicht zu verstehen. Vielleicht sind die „Blinden“ von Agamemnon, Ödipus und Herakles über Lear und Hamlet bis zu Brechts Courage und Becketts Gestalten deshalb Archetypen des Theaters, weil die Bühne stets der Ort war, an dem der Schiffbruch des Verstehens erfahren wird.“
Schwer zu verstehen. Ich lese es nicht noch einmal. Der Text ist bei Inka oder mir jederzeit zu bekommen.
In der Akademie der Künste gab es im November 2019 eine schöne Veranstaltung zu Ehren von Hans-Thies Lehmann und zum 20-jährigen Erscheinen seines Buches.
Lehmann aber wollte nicht mehr selbst sprechen. Er war währenddessen in einem Nebenraum, von seiner Tochter und Helene beschützt und empfing dort einzeln einige Freunde und Weggefährten. Und während er dort ausharrte, schrieb er fortwährend an einer Rede, die der wunderbare Schauspieler Wolfram Koch dann für ihn gehalten hat. Dort hieß es: „… Wir lassen uns nicht verbittern in dieser bittren Zeit. Wenn wir uns den Spaß am Erfinden nicht rauben lassen, kann und wird es wieder unsere Zeit sein!“.
Und jetzt, in dieser immer noch bittren, bittren Zeit, bist du also hier angekommen. In Schöneberg. Im Handgepäck aus Griechenland eingeflogen. Und gelandet auf dem wunderschönen St. Matthäus Kirchhof. Hier liegen sie um dich herum, die Gebrüder Grimm – und Rio Reiser, die Sternenkinder und Rocky Graziano – schon wieder ein Boxer. Eine illustre Runde. Eine Mischung wie dein Rauchtee. Du solltest dich hier eigentlich wohlfühlen.
Lieber Hans-Thies,
du schreibst in der Theaterschrift Nr.12 von 1997: „Die toten Römer in Jan Lauwers «Julius Cäsar» werden bei ihm zur Parodie der Reiterstandbilder. Die Spieler sitzen, nach ihrem Tod im Drama, glücklich lächelnd auf Schaukelpferden.“
Das wünsche ich Dir auch, von Herzen.
Tom Stromberg