„Theater muss neue Fragen stellen, etwas riskieren“. Bilanz nach 100 Tagen Intendanz DSH, Die Welt, 18.Januar 2001

Veröffentlicht von Thomas am

Tom Stromberg

Auszüge aus dem Logbuch des Intendanten: 

20. Mai bis 24. Juni 2000

Die Previews im Neuen Cinema (der neuen Spielstätte am Steindamm): Erste Einblicke in die Arbeit des neuen Teams am Schauspielhaus. Das Haus ist voll, die Leute kommen und sind neugierig.

29. September 2000:

Eröffnung der ersten Spielzeit. Wir wollen viele neue Stücke vorstellen, mit dem Publikum über gutes, zeitgemäßes Theater diskutieren und an überholten Bildern von Theater und Kunst arbeiten. Wir eröffnen die erste Spielzeit mit drei Uraufführungen, gehen ein hohes Risiko ein – und verlieren. Und gewinnen! Das Publikum ist verärgert, verunsichert, erfreut, begeistert, hungrig nach mehr. Die Tanz-Performance „The show must go on!“ schafft es völlig ohne Worte, die Zuschauer in allen ihren Erwartungen an die Publikumsrolle und das Bühnengeschehen zu verunsichern. Alles kann passieren, jede Aufführung wird spannend: Wie (re)agiert das Publikum?

Wir wollen auf das Publikum zugehen und die Institution Theater öffnen. Das Bühnengespräch mit Roger Willemsen, der Malersaal Klub, das erweitere gastronomische Angebot, das Projekt „Schreibtheater“ und vieles andere mehr sind Angebote, das „alte“ Theater aus seiner kulturellen Abgeschlossenheit herauszulösen. 

Das Theater muss nicht nur die ehrwürdige Bewahrerin der Hochkultur sein.

13. Oktober 2000:

Im Oktober diskutiert Hamburg über Platzauslastungen in den neugeführten Hamburger Theatern. Das Schauspielhaus empfiehlt den Rechenkünstlern das sogenannte Autostück „What are you afraid of?“ von Richard Dresser, das von zwei Schauspielern nicht im Theater, sondern in einem Auto gespielt wird. Ein Mann und eine Frau fahren durch Hamburg in der Nacht, drei Zuschauer sind auf dem Rücksitz dabei. Platzauslastung immer hundert Prozent. Theater für eine Stadt, in einer Stadt.

8. November 2000:

Ich wünsche mir ein Theater, das vermehrt für die Diskussionen in den anderen Künsten, den Medien, der Politik offen ist. Christoph Schlingensief hat an diesem Haus mit seiner theatralen politischen „Notruf“-Aktion 1997 ein Zeichen gesetzt. 

Das Theater als „alte“ Kunst, als künstlerische Form unmittelbarer Präsenz braucht die Auseinandersetzung mit den neuen Medien, um sich seiner eigenen Notwendigkeit bewusst zu werden. Die Live-soap im 2. Rangfoyer „World wide web – slums“ des Hausautors René Pollesch stellt in sieben Uraufführungen in sieben Wochen das Internet mit theatralischen Mitteln aus und löst die traditionellen Theaterformen auf. Das Publikum ist mittendrin, auf Siebziger-Jahre-Sitzsäcken und Polstern. Bühne passé. Wir ziehen ein junges Publikum an, das Rangfoyer ist voller Zuschauer, die vielleicht zum ersten Mal in diesem Haus sind.

„Ich bin onlinesüchtig und offline irgendwie auch“, heißt es in den „slums“: Unter www.schauspielhaus.de kann man seit November Serviceleistungen abrufen, aber auch Theater gucken, mitschreiben, gewinnen, Fotos ansehen, einen virtuellen Hausrundgang machen und vieles mehr. Bisher wurden wir 51.000 Mal angeklickt.

Natürlich ist das alles riskant, natürlich zögern wir selbst immer wieder, schließlich sind die meisten unserer Aufführungen ganz neu, nicht erprobt durch lange Theatertraditionen. Aber darin sehen wir unsere Aufgabe: Ein Theater zu machen, das etwas riskiert, indem es neue Fragen stellt, an der Gegenwart dranbleibt, seine eigene Geschichte reflektiert. Wir wollen junge Theaterautoren für die Zukunft des Theaters fördern, durch internationale Projekte den Austausch mit anderen Kulturen betonen.

10. November 2000: 

Premiere des „Struwwwelpeter“ von Crouch/McDermott nach Hoffmann. Ein schaurig-schönes Musical zieht viele kleine und große Zuschauer an. Die Hamburger gewinnen uns lieb – trotz diverser Bühnen-Kindertode.

30. November 2000:

Unser erstes „traditionelles“ Theaterstück hat Premiere: „Die Möwe“ von Tschechow, über hundert Jahre alt und ganz aktuell. Der Regisseur Stefan Pucher setzt die Schauspieler in die Logen und lässt sie das Hamburger Publikum spielen. Ihm gelingt mit Video-Einsatz, Gesang und den Schauspielern eine ebenso spektakuläre wie leise, wie unmittelbar-eindringliche Aufführung über die Einsamkeit des Menschen, über das Verhältnis von Kunst und Leben. Tschechows Figuren träumen vom Ruhm, hoffen auf Gegenliebe, warten auf das „wirkliche“ Leben. Der junge Konstantin probt den Generationenwechsel und fordert ein neues Theater. Ein Autor hat für uns Konstantins Bühnenstück geschrieben, ein programmatisches Manifest für ein neues Theater. Nicht zuletzt diskutiert Puchers „Möwe“ das immer wieder gern erwartete Illusionstheater. Tschechows Dramen bilden einen Höhepunkt im psychologisierenden Theater der Jahrhundertwende 1900. Wie sehen wir solch ein Stück hundert Jahre später im in der Kunst vielbeschworenen nach-psychologischen Zeitalter?

5. Dezember 2000:

„Sex-Geständnisse im Schauspielhaus“ titelt eine Hamburger Zeitung. Die „Vagina-Monologe“ von Eve Ensler haben am 6. Dezember im Neuen Cinema Premiere. Sie haben in Amerika für Skandal gesorgt und regen jetzt Hamburg auf.

6. Januar 2001:

Hundert Tage Schauspielhaus.

Zur Zeit proben wir den „Reigen“ von Schnitzler, ein weiterer „Klassiker“ im Schauspielhaus, der im Februar Premiere haben wird. Zehn Szenen von zehn Regisseuren inszeniert – ein Staffellauf – der Gefühle, der Regiestile, über die Zentrifugalkräfte der Liebe. Liebe und Sexualität, Sexualität ohne Liebe und die Selbstinszenierung der Figuren im Stück – Motive der Theaterarbeit auch im Deutschen Schauspielhaus.

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