„Was verdient das Theater? Überlegungen zum Wandel und zukünftigen Stellenwert des Theaters“. Köln 2001 (Dumont)

Veröffentlicht von Thomas am

von Tom Stromberg

in: Hilmar Hoffmann (Hg.), Kultur und Wirtschaft. Knappe Kassen – neue Allianzen. Köln 2001 (Dumont), S. 127 – 133

I.

Deutsches Schauspielhaus in Hamburg, 17. Februar 2001. Kälte. Drei Menschen treffen sich vor der Spielstätte „Neues Cinema“, einem ehemaligen Kino. Sie sind Besucher des Stücks „What are you afraid of?“ von Richard Dresser in der Regie von Stefan Pucher. Aber sie gehen nicht ins „Neue Cinema“ hinein, sondern steigen zu einem Mann ins Auto, der bald eine Frau mitnehmen wird, die am Straßenrand steht. Sie fahren zusammen eine Stunde lang durch Hamburg, hinein in den Großstadtverkehr, vorüber an Passanten, Geschäften, Restaurants. Die drei auf der Rückbank verfolgen die Annäherung der beiden Fremden, die Hitze und das Erkalten.

Ich beginne meine Gedanken zum Verhältnis von Kunst und Geld bewusst mit einem Beispiel aktueller Theaterproduktion. Diese Inszenierung ist ein gutes Beispiel für die theatrale Erprobung substanzieller Fragen, die sich im Zeitalter medialer Vermittlungen stellen. Sind die drei Menschen auf der Rückbank des Wagens überhaupt noch als „Zuschauer“ zu bezeichnen? Sind sie Voyeure des Gesprächs zwischen dem Mann und der Frau? Sind sie Teilnehmer eines (für sie) ungewissen Ereignisses? Was von dem Erlebten ist Fiktion, was ist Realität, was ist Zufall und damit bei jeder „Vorstellung“ anders? Und nicht zuletzt: Was passiert mit den Besuchern selbst während dieser Stunde im Auto, wenn sie nicht mehr wie üblich die Betrachter eines Kunstwerks sind? – Allein vom ökonomischen Standpunkt aus ließe sich schnöde anmerken, dass bei dieser Theaterproduktion gerade mal drei Zuschauer dabei sein können, das Ganze also letztlich finanziell nicht tragbar sei. Doch so einfach geht die Rechnung nicht auf.

II.

Was leistet Kultur? fragt sich eine Gesellschaft im Wachstums-und Machbarkeitswahn. Ja was? fragen die Politiker, denen längst das Geld ausgegangen ist, Kunst zu fördern wie in alten Zeiten. Welche Kultur brauchen wir wirklich, reichen nicht die vielen Unterhaltungsangebote? fragen die Anhänger von Konzerten, Multimedia-Spektakeln, Museums-Events und Musicals, denen moderne Kunst zu „elitär“ ist. In Zeiten leerer Staatskassen werden die Karten neu gemischt: Welche Kunst leistet sich die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts? Wir brauchen nichts so sehr wie die Orte der Kunst, Orte der Intensität und der Herausforderung, Orte, die ein anderes Verhältnis zur Zeit haben. Kunst tut bitter Not.

Kein Wunder, dass sich Fragen nach der Zukunft staatlich subventionierter Kunst gerade für die Theater verschärft stellen. Das Theater hat – und das sollte man ganz unsentimental anerkennen – seine historische Bedeutung verloren und ist längst nicht mehr das Zentrum von Bildung und Unterhaltung, das es einmal war. Die Schaubühne verstand sich seit dem 18. Jahrhundert erfolgreich als Ort bürgerlicher Identität, stellte relevante Fragen zur Austragung gesellschaftlicher Konflikte, bewegte die Menschen in Herz und Kopf.

Im Zeitalter einer schwindenden bürgerlichen Öffentlichkeit, in der andere Medien großen Raum einnehmen, sehen Gegner die bürgerlichen Kulturinstitutionen der Tradition wie die Staatstheater schon auf der Abschussliste. Liebend gern werden Finanz- und Strukturprobleme des subventionierten Theaterbereichs öffentlich diskutiert, aber eine Debatte über die ungleich wichtigeren inhaltlichen Fragen fand lange Zeit weder außerhalb noch innerhalb der Theater statt. Gerade die Stadt- und Staatstheater befanden sich in einer Phase des lähmenden Stillstands und der Orientierungslosigkeit, weil sie kein künstlerisches Medium des jüngeren Publikums mehr sind. Das müssen wir nicht so hinnehmen.

Solange aber das Theater immer wieder die Stücke „Das Literatur-Museum“ und „Wir stehen in Opposition zum braven Bürger“ aufführt, wird es nur eine verschwindend geringe Minderheit junger Leute ansprechen. Die große Mehrheit wird sich weiterhin und verstärkt Film und Fernsehen als überwiegend unterhaltenden Medien zuwenden und daneben und zugleich den aktuellen künstlerischen Medien Fotografie, Bildende Kunst und Neue Medien. Dabei hat gerade das Theater als die Kunstform der intensiven Auseinandersetzung mit unserem Verständnis von Identität das Potential für wichtige Fragen nach veränderten Selbstbildern in Zeiten medialer Vermittlungen.

III.

Mit einem allerorten einsetzenden Generationenwechsel bei den Theaterregisseuren, den Intendanten, den Dramaturgen hat das Theater nun die Chance zur erneuerten Selbstreflexion. Das Selbstverständnis jüngerer Theatermacher ist nicht mehr vergleichbar gespeist aus der Opposition zur Gesellschaft wie das Theater vergangener Jahrzehnte. Ein künstlerisch wichtiger Aspekt ihrer theatralen Arbeiten ist stattdessen die Verständigung über den Kunst-Charakter von Theater. Das Werk im Prozess und als Prozess wird auch im Theater wie längst in den anderen Künsten reflektiert, die Aufführung als Aufführung transparent und das Theater als Institution unterwandert.

Das zeigt sich auch an der Besucherrolle im Autostück „What are you afraid of?“. Die Besucher sind nicht mehr die Betrachter eines Kunstwerks, hieß es oben. Tatsächlich sind sie emotional in ganz anderem Maße beteiligt als bei einer Aufführung beispielsweise auf der großen Bühne des Schauspielhauses. Sie erleben diese „Aufführung“ unter gänzlich anderen Wahrnehmungsbedingungen.

Der „Theater-Raum“ Auto aus dem Alltagszusammenhang des Zuschauers verschärft und verunsichert zugleich die Wahrnehmung und markiert damit die Rolle des Zuschauers neu. Der Zuschauer wird von vornherein an der gewohnten Theater-Kontemplation gehindert, Pucher katapultiert ihn aus der Erfahrung des Betrachters in eine neue, noch ungewisse Rolle. Lustvoll erlebt der Besucher-Mitfahrer die Verunsicherung seiner Identität. Fragen an die sinnliche Wahrnehmung und ihre Tragfähigkeit stellen sich, aber auch an die Wandlungen der Wahrnehmung. Und nicht zuletzt erhält der Theaterbesuch als Gemeinschaftserlebnis hier eine neue Qualität, wenn die Besucher aufgrund ihrer geringen Zahl einander ganz anders wahrnehmen und Erfahrungen weitergeben können.

Das Theater zeigt sich damit ein weiteres Mal als ein unersetzlicher Ort des gemeinschaftlichen Erlebnisses, der sinnlichen Reflexion und der realen Präsenz der Kunstschaffenden. Als Ort der gleichzeitigen Kunstproduktion und Kunstrezeption strahlt das Theater eine ihm eigene Intensität aus. Das sollte es uns wert sein, auch wenn im Einzelfall die Effizienz das Nachsehen haben sollte.

Natürlich ist Theater weiterhin auch Literaturtheater, und das ist gut so – aber Theater ist mehr, ist lange Zeit mehr gewesen und entdeckt jetzt seine performativen Wurzeln neu. So verschieden neuere Theaterproduktionen auch sind, so ist doch vielen von ihnen gemeinsam, dass sie die literarische Sprache aus dem Zentrum des Theatergeschehens gerückt haben. Stattdessen trägt eine mehrdimensionale Auseinandersetzung mit dem Körper und seiner Wahrnehmung, mit der Bewegung und dem Tanz, mit Bildern und Musik den aktuellen gesellschaftlichen Wandlungen Rechnung. Während im literarisch orientierten Theater die Wahrnehmung des Zuschauers auf ein Zentrum ausgerichtet und in die Tiefe geleitet wird, sind neuere Theaterproduktionen stärker an simultaner, mehrperspektivischer Wahrnehmung interessiert. Das kann man natürlich beklagen – muss man aber nicht.

IV.

Die jüngeren Theatermacher bedienen damit weder das alte Bildungsbürgertheater noch die eingespielte Sehgewohnheit des politisch orientierten Theaters. Dafür brauchen sie Räume: Neue Spielstätten, Räume in den Köpfen der Besucher und natürlich auch finanzielle Räume. Sie verdienen Chancen und Unterstützung, damit wir ihre künstlerischen Angebote wahrnehmen und uns bereichern lassen können.

Wenn sie Alltagsräume theatralisieren, wenn sie sich aktuellen Themen wie dem Internet zuwenden, wenn sie das Theater als ein Labor der Wahrnehmung erproben, ist es existenziell bedeutsam für sie, wenn sie nicht gleich vorab nachweisen müssen, wie viele Zuschauerplätze sie damit besetzen können. Deshalb haben wir zum Beispiel im Hamburger Schauspielhaus dem jungen Dramatiker René Pollesch für seine siebenteilige Live-Soap das 2. Rangfoyer des Theaters bespielbar gemacht und mit diesen Aufführungen ein enthusiastisches Publikum gewonnen, das zum Teil noch nie vorher im Schauspielhaus gewesen ist, und sich jetzt für den großen Zuschauerraum interessiert.

Gerade das Staatstheater ist meiner Meinung nach aufgrund seiner kontinuierlichen öffentlichen Subventionen aufgefordert, sich neuer Theaterkunst zuzuwenden. Wenn es in wirtschaftlich schwierigeren Zeiten problematisch wird, finanzielle Möglichkeiten für künstlerisch Neues zu schaffen, ist die öffentliche Hand gefragt und sollte es als vornehme Aufgabe begreifen, solche Freiräume zu schaffen. Aber auch die Bedeutung der Leistungen von Firmen und engagierten Bürgern wird weiter zunehmen.

Ich möchte hier nicht einen weiteren Beitrag zur müßigen Sponsoring-Debatte leisten, nur soviel: Sponsoring ist meiner Meinung nach ein Auslaufmodell. Ich glaube, dass in Zukunft nicht das herkömmliche Sponsoring im Vordergrund stehen wird, sondern Partnerschaften – private wie unternehmerische. Neue Kooperationen werden zwischen Wirtschaft und Kultur entstehen. Frühere Berührungsängste schwinden, zumal auch in den Vorstandsetagen Kunst und Kultur zunehmend als Ressource für Kreativität und Innovation und als Plattform für Dialog und Imagetransfer erkannt werden. Das ist eine Chance für beide Seiten, also auch für die Kunst, die sich ihrerseits damit als Partner und nicht als Bittsteller verstehen kann.

Das Deutsche Schauspielhaus hat mit der Hapag Lloyd Stiftung bereits vor Jahren einen Hauptsponsor gefunden, der sich als solch ein Partner des Hauses versteht und das Schauspielhaus unabhängig von seinen aktuellen Produktionen fördert. Solch eine Zusammenarbeit befördert natürlich in besonderem Maße die Kommunikation zwischen den Partnern und ist ausgesprochen wünschenswert. Aber auch die Zusammenarbeit mit unseren Sponsoren Volksfürsorge Versicherungen, Dresdner Bank, Körber-Stiftung, ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius und mit der BMW Niederlassung Hamburg, die einzelne Projekte unterstützen, und mit den Medien und Kommunikationspartnern NDR, Scholz & Friends und n.a.s.a. 2.0 – eine Firma, die für unseren Internet-Auftritt zuständig ist – sehe ich als besonders produktiv an. Das tradierte Bild vom Künstler, der sich nicht „beschmutzen“ soll durch die Beschäftigung mit Geld, durch die Einwerbung von Sponsorenmitteln, der sich freihalten soll von den wirtschaftlichen Zwängen der bürgerlichen Gesellschaft, hat sich längst gewandelt. Im Gegenteil verwischen die Grenzen zunehmend stärker, der Impuls geht oft von der Wirtschaft aus, die das Flair des Künstlerischen sucht.

V.

Wenn aber die Theaterbesucher heute keine Kunstbetrachter alten Stils mehr zu sein brauchen, wenn es, so der Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann, zu einer Verschiebung der Kunstwahrnehmung von der beobachteten Bewegung zur selbst vollzogenen Bewegung, von der Betrachtung zur Benutzung von Kunst kommt, dann wandelt sich auch das Theater als Institution. Und das ist gut so, denn Institutionen ermöglichen und sichern nicht nur künstlerische Arbeit, sie erschweren auch neue künstlerische Impulse und brauchen deshalb immer wieder Innovationen.

Damit wird das Theater als Ganzes zu einem bewegten Raum in Benutzung, an dem zu verschiedensten Zeiten verschiedenste Veranstaltungen stattfinden, diskutiert und gelacht, gegessen und getrunken wird, den das Publikum besucht und wieder verlässt nach Bedarf. Dieses gewandelte Theater ist zugleich für die Wirtschaft interessant und gänzlich außer Gefahr, von ihr okkupiert zu werden. Im neuen Theater der Kunstnutzer wird es vielleicht nicht mehr so knistern vor Erwartung wie im alten Musentempel mit seiner besonderen Schwellensituation, aber dafür macht es Spaß, ist lebendig, überraschend, ein lässiger Ort intensiven gemeinschaftlichen Erlebens. Dieses gewandelte Theater wird von einer neuen, entspannten Atmosphäre getragen sein, die es zu erproben gilt. Eines ist aber auf jeden Fall sicher – die Fragen selber wandeln sich mit den Menschen, aber der Ort, an dem sie verhandelt werden, ist und bleibt das Theater.

Kurzbiografie

Tom Stromberg

geb. 1960 in Wilhelmshaven. 1984 – 85 Dramaturgieassistent am Staatstheater Darmstadt. 1986 – 96 Dramaturg/Chefdramaturg, Intendant Theater Am Turm, Frankfurt/M. (TAT). 1996 – 2000 Künstlerischer Leiter Kultur- und Ereignisprogramm EXPO Hannover GmbH. Seit August 2000 Intendant des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg. Mitglied des Beirates für Theater und Tanz des Goethe-Instituts. Kurator für das Theaterprogramm der documenta X, „Theaterskizzen“, Kassel 1997. Mitglied der Akademie der Darstellenden Künste. Lehraufträge an den Universitäten Giessen, Mainz und Innsbruck

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