„Hans-Thies Lehmann zum 60. Geburtstag“. AufBrüche, Berlin 2004

Veröffentlicht von Thomas am

Lehmann, Nichtverstehen

Tom Stromberg

In: AufBrüche. Theaterarbeit zwischen Text und Situation. Hans-Thies Lehmann zum 60. Geburtstag, hrsg. von Patrick Primavesi und Olaf A. Schmitt, Berlin 2004

Lehmann ist eigentlich immer undercover unterwegs. In den 80ern und 90ern kam er ganz unauffällig, ganz regelmäßig und zuverlässig zu uns ins TAT und hat alle unsere Sachen angeguckt. Jan Fabre, Heiner Goebbels und Michael Simon, Jan Lauwers, Michael Laub und all die andern, später Pollesch und Pucher. Der freundliche, bescheidene Mann im unauffälligen Anzug − Schmetterlingssammler der jüngeren Theaterszene? Der Wissenschaftler, der das Theater in seinem Hirn mitnimmt und zwischen zwei Buchdeckeln tot presst? 

Wohl kaum. Schließlich kam er von Gießen rüber, wo er als Assistent von Andrzej Wirth am Theater-Sprengstoff-Institut mit dem Decknamen „Institut für Angewandte Theaterwissenschaft“ die Ausbildung von Theaterleuten aufmischte. Das Ganze auf die Füße stellte, die Leute Theater machen ließ – und drüber nachdenken – und wieder machen ließ – und noch mal drüber nachdenken. Danach, als er schon Professor war, nistete er sich zwecks unkomplizierten Theaterbesuchs gleich in Frankfurt ein.

Noch einmal: Der Wissenschaftler als Formalisierer und Theoretiker, der die Erfahrung von Kunst in Rahmen und Strukturen zwingt? Von wegen. Der Mann mit dem auffallend zarten Händedruck führt ständig einen Sprengstoffkoffer gegen die Wissenschaft spazieren. Gegen das Verstehen. Jedenfalls im traditionellen Sinn: „Verstehen will schließen. Mit derselben Geste, die aufschließt, wird das Aufgeschlossene zugleich gerahmt und überschaubar abgeschlossen.“ Gegen die übliche Form der Theoriebildung: Theorie antwortet auf postmoderne Kunst „mit stets elaborierteren Entwürfen der Synthetisierung, Logifizierung und Verständigungsbildung, die nicht dieses Stolpern ins Zentrum rücken, sondern mit letzter Kraft versuchen, die Trümmer zu kitten, das Gleichgewicht zu halten.“ Das ist nicht sein Programm.

Stattdessen: Postdramatisches Theater. Einfach so. Kein Untertitel, keine absichernden Einschränkungen – in der Wissenschaft eigentlich überlebenswichtig. Ein Buch, das neuere Theaterentwicklungen ernst nimmt und sie der theoretischen Beschäftigung mit Theaterkunst zugänglich macht. Ihrer gegenwärtigen Präsenz Zukunft gibt. Ein Denkprozess weg von der Dominanz des Textes im Theater: „Der Titel „Postdramatisches Theater“ signalisiert, indem er auf die literarische Gattung des Dramas anspielt, den fortbestehenden Zusammenhang und Austausch zwischen Theater und Text, auch wenn hier der Diskurs des Theaters im Zentrum steht und es daher um den Text nur als Element, Schicht und ’Material’ der szenischen Gestaltung, nicht als ihren Herrscher geht.“

Die Seite 38 lese ich immer wieder. Da geht es um das Wagnis experimentellen Theaters, um die Förderung, die Künstler brauchen, damit sie Kunst am Theater machen und nicht sonstwo. Um die Theater, die Risiken eingegangen sind und deshalb Dank verdienen. Diese Aufmunterung tut gut ab und zu. Manchmal brauchen auch die Unterstützer Unterstützung. Ansonsten habe ich eine Menge angestrichen. Mit verschiedenen Stiften, also offenkundig zu verschiedenen Anlässen und Zeiten. Eselsohren geknickt, Klebezettel appliziert, schöne Sätze wie diesen markiert: „Mehr Gefahr droht der Tradition des geschriebenen Textes von musealer Konvention als von radikalen Formen des Umgangs mit ihm.“

„Die Intention dieser Studie geht nicht auf umfassende Inventarisierung.“ Glücklicherweise. Lehmann ist eher einer, der mit dem Buschmesser eine Bresche schlägt durch den Realitätsdschungel Theater. „Aufgabe der Theorie ist es, das Gewordene auf Begriffe zu bringen, nicht es als Norm zu postulieren.“ Begriffstäter. Aber einer, der das Theater liebt, das Schauen, das Fragen, der sich für eine Erfahrung öffnet statt zu katalogisieren. Und es liebt, sie in Sprache zu übersetzen. Zum Beispiel, wenn er sich mit den oft unverstandenen Arbeiten von Jan Lauwers auseinandersetzt und ungewohnte Spielweisen zunächst beschreibt: „Bei Lauwers wird die fiktive Realität des Stücks oder der Narration in die Realität der Bühne zurückgeholt, die Spieler verhalten sich oft scheinbar privat und ungezwungen, bewohnen die Bühne. Auch wenn sie in der Rolle agieren, illusionieren sie die Charaktere nicht.“ Und sich davor hütet, ästhetische Neuerungen vorschnell im Defizitären zu verorten, wie das allzu oft geschieht: Verlust von Form, Beliebigkeit und dergleichen mehr … Im Gegenteil: „Mit diesem Akzent auf dem Momentanen verbindet sich in Lauwers´ Arbeiten eine eigenständige Bühnenästhetik, die der bildende Künstler ins Theater mitbringt: die visuellen Details, Gesten, Farben und Lichtstrukturen, die Materialität der Dinge, Kostüme und räumlichen Beziehungen bilden mit den exponierten Körpern ein komplexes Geflecht von Anspielungen und Echos, das bei aller scheinbaren Zufälligkeit und in Kauf genommenen Unvollkommenheit zugleich eine Komposition bildet.“

Ein Weggefährte. Dass Theater umso wichtiger ist, je mehr es sich der Orientierungslosigkeit der Gesellschaft stellt, haben die Gegner seines Buches bis heute nicht verstanden. Auch nicht, dass Bücher wie seine den Leser reicher machen: Am Ende mehr Fragen als Antworten.

Zum Schluss Kulturpolitik. Zehn Jahre alt (aus: Ästhetik. Eine Kolumne, zum Immer-wieder-lesen!), superaktuell und wunderbar: „Wo es keine nennenswerten politisch-gesellschaftlichen Inhalte jenseits des Geldwerts (und eines korrespondierenden, ebenso gedankenlosen Moralismus) gibt, darf man sich über dieses alarmierende Anzeichen dafür, dass die Gesellschaft auch an ihre Zukunft nicht glaubt, eigentlich nicht wundern. Auch nicht darüber, dass die Diskussion über die staatliche Förderung von Kunst durchweg aus einer im Grunde unsinnigen, aber überall wie selbstverständlich eingenommenen Perspektive geführt wurde: dass nämlich die Gesellschaft mittels des Staats Geld dafür aufbringen solle (oder eben nicht, oder nicht so viel), dass viele Leute Theater konsumieren können. In Wahrheit geht es natürlich darum, dass sie ein Interesse (kein finanzielles und keines des Entertainment) daran haben muss oder doch müsste, dass einige (wenige) die Möglichkeit erhalten, nichtkommerzielles Theater zu machen.“ 

Genau.

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