„Kulturaufbau in Afghanistan. Ein Reisetagebuch“. Theater der Zeit Heft 11, November 2004

Veröffentlicht von Thomas am

Flughafen Frankfurt, bereit für den Flug Frankfurt – Dubai – Kabul. 

In einem Magazin hatte ich ein Foto von zwei afghanischen Schauspielern auf der Bühne einer Theaterruine gesehen. Ich konnte gar nicht glauben, dass die dort, wo nichts ist, tatsächlich Theater spielen … Aber es ist so. Mit meinem Chefdramaturgen, dem technischen Direktor des Schauspielhauses in Hamburg und einer Hamburger Journalistin fliege ich nach Afghanistan. Als Mitglied im Theaterbeirat des Goethe-Instituts werde ich die Goethe-Leute vor Ort zur Förderung der Kabuler Theaterlandschaft beraten. Theaterlandschaft? 

23 Jahre Krieg und die Taliban-Herrschaft haben das kulturelle Leben Afghanistans weitestgehend zerstört. Kulturarbeit bedeutet in diesem Land Kulturaufbau. Und Theater … Die Taliban haben so gut wie jedes kulturelle Leben, Theater und Musik verboten. Bildung und Abbildung galten als Abfall vom Glauben. 

Seit 1990 gibt es dort kein Goethe-Institut mehr. Aber die Deutschen sind in Afghanistan sehr beliebt. Sie kamen nicht als Kolonialherren und haben keine Kriege angezettelt. Stattdessen haben sie über Jahrzehnte Entwicklungshilfe geleistet. Auch jetzt ist Deutschland das erste Land, das nach dem Krieg wieder in die Kulturarbeit des Landes investiert. 

Renate Elsaeßer, erfahrene Goethe-Frau, die sich schon in Sarajevo für den kulturellen Wiederaufbau engagiert hat, wird unsere erste Anlaufstelle sein. 

6. November 

Kabul. Wir kommen in eine Stadt, in der über die Hälfte aller Häuser zerstört, Wasser und Strom nur zeitweilig verfügbar sind. Grenzenlose Armut, mehr als die Hälfte der Menschen lebt von den internationalen Hilfsorganisationen. 

Ein mörderischer Verkehr empfängt uns, stinkende, kaputte Autos sind unterwegs, unzählige Fahrräder (Frauen dürfen nicht Rad fahren!), Menschen mit Handkarren und Eseln. Die neue Zeit kündigt sich an mit Unmengen von Stromkabeln, die an den Häusern herunter hängen wie Lianen. Unzählige Fernseher sollen bereits gekauft worden sein.

Erst vor kurzem wurde die Sperrzeit aufgehoben. Noch keine Sicherheit. Überall Waffen.

Mein Chefdramaturg richtet unvorsichtigerweise die Kamera auf einen amerikanischen Rambo mit Lederweste und Maschinenpistole, der in der Chickenstreet einen Laden verläßt. Der furchterregende Kerl kommt mit vorgehaltener Maschinenpistole auf ihn zu und schreit: „If you do this again, I’ll shoot you! We’re not in America, we’re in Kabuuul!“ Nur das umsichtige Verhalten des Intendanten – sprich: feiger Rückzug – rettet das Leben des Chefdramaturgen…

Die Menschen hier sind freundlich, neugierig, aufgeschlossen für Fremdes. Aber noch immer gibt es auch großen Widerstand gegen Neuerungen. Gleichberechtigung der Frauen, die Beschäftigung mit Musik und anderen Künsten, Alkoholgenuss sind westliche Selbstverständlichkeiten, die hier überwiegend abgelehnt werden. Konzertabende lassen sich manchmal nur realisieren, wenn Soldaten das Gebäude schützen.

Versteckt am Rande der Chickenstreet, der größten Einkaufsstraße Kabuls, wechselt in einem kleinen Lebensmittelladen Wein in leeren Zigarettenstangen den Besitzer – zu horrenden Preisen. Bier zu bekommen ist fast noch schwieriger. Erst als wir noch Dollars drauflegen, bekommen wir statt des tschechischen Biers von 1983 (!) ein aktuelles Heineken.

7. November 

Unglaublich, was Renate Elsaeßer hier bereits geleistet hat. Nach wenigen Wochen Aufenthalt kennt und schätzt sie jeder. Heute stellt sie uns den jungen afghanischen Regisseur Mahmoud Shah Salimi vor. Als er sich fürs Theater entschieden hatte, brachen seine Eltern den Kontakt mit ihm ab. Über Jahre hat er an der Universität Kabul studiert, immer wieder unterbrochen durch Kriege und Schließungen der Uni. Er lebt seit einiger Zeit im Exil in Peshavar/Pakistan und hat dort Straßentheater in sozialen Projekten von terre des hommes gemacht.

Das Goethe-Institut wird ihn unterstützen. 

8. November

Auch die neue Leiterin des Nationaltheaters lernen wir kennen. Die Schauspielerin Gul Makay Shah hat in Pittsburgh einen Beauty-Salon geführt. Jetzt ist sie Herrin über eine Ruine und zeigt uns eine kleine Theaterszene, die sie mit ihren Schauspielern für uns erarbeitet hat. Wir haben Anlass, über die Entstehung des Theaters aus dem Geist eines Beauty-Salons nachzudenken. 

Interessanter erscheinen mir die Leute im „Institute for Fine Arts“ der Uni. Aber auch dort fehlt es an allem: Schreib- und Zeichenmaterial, Bücher, intakte Räumlichkeiten. Von technischen Hilfsmitteln für Unterricht oder Theateraufführungen ganz zu schweigen. Der Proberaum der Uni, ein Raum des ehemaligen Pathologischen Instituts, hat weder Dach noch Fenster, auch keine Heizung. Geprobt werden kann nur tagsüber, abends wird es zu kalt.

Die junge deutsch-afghanische Regisseurin Julia Afifi aus Frankfurt will hier Theater machen. Wir organisieren die Restaurierung dieses Raumes und versprechen ihr Sachspenden aus Deutschland.

9. November 2003

Das Flugzeug verlässt den iranischen Luftraum und fliegt über den persischen Golf. Ich sage zum Chefdramaturgen, die Gefahr, entführt zu werden, sei damit auf 10% gesunken. Der antwortet, das Flugzeug mache grade eine Schleife zurück. Fünf Minuten später landen wir auf einem Militärflughafen im Iran: das Benzin war alle. Im Hotel in Dubai erfahren wir von den Piloten, es grenze an ein Wunder, dass die iranischen Behörden der afghanischen Airline auf Pump Benzin gaben. 

April 2003

Im Rahmen der Afghanistan-Woche Die Überforderung des Menschen durch den Krieg laden wir Salimi nach Hamburg ein. Er studiert hier Der Krieg und die Liebe des Exil-Afghanen Atiq Rahimi mit Schauspielern des Schauspielhauses ein. Renate Elsaeßer ist bei uns zu Gast und berichtet von ihrer Arbeit in Afghanistan. Wir zeigen Theaterstücke und Filme, bieten Gespräche, Lesungen und Diskussionen an und hoffen, Afghanistan ein wenig mehr ins westliche Bewusstsein zu rücken.

19. November 2003

Auf meine zweite Kabul-Reise nehme ich unseren Hausregisseur Jan Bosse mit, der Kontakte zu afghanischen Theaterleuten knüpfen will. Vorbereitung auf einen deutsch-afghanischen Kulturaustausch im Herbst kommenden Jahres.

Renate Elsaeßer empfängt uns diesmal im Gebäude der ehemaligen DDR-Botschaft. Im September konnte sie hier offiziell das Goethe-Institut (wieder-)eröffnen.

21. November

Wir besuchen Salimi, der nach Kabul zurückgekehrt ist. Er unterrichtet jetzt an der Uni und reist mit seinem „Exile Theatre“ mit Unterstützung vom Goethe-Institut durchs Land.

Am „Institut for Fine Arts“ der Uni studieren inzwischen vierzig Studenten Theaterwissenschaft – alle männlich. Der Proberaum konnte mit unserer Unterstützung notdürftig restauriert werden. Morgen wird er seine Premiere als Spielstätte erleben, wenn dort Julia Afifis Antigone von Sophokles aufgeführt wird.

22. November 03

Gestern Abend ist am Hotel Interconti eine Bombe explodiert. Sämtliche Fensterscheiben der Rückseite gingen zu Bruch. Die deutsche Botschaft verbietet aus Sicherheitsgründen alle öffentlichen Veranstaltungen.

Ich bin Antigone, sagt Renate Elsaeßer und akzeptiert das Aufführungsverbot so wenig wie Antigone Kreons Verbot, ihren Bruder zu beerdigen. 

Letztendlich kann die Aufführung stattfinden. Afghanische Soldaten mit Kalaschnikow umstellen den Theaterraum zu unserem Schutz.

Heute geht Ramadan zu Ende. Bevor Theater gespielt werden kann, wird also erst mal gegessen.

Der Aufführungsraum hat eine Holzdielendecke erhalten, einige Fenster konnten eingebaut werden, zum Teil noch ohne Glas. Ein winziger Ofen gibt keine Wärme. Der Raum ist zur Hälfte bestuhlt, die anderen der insgesamt rund 200 Zuschauer sitzen auf dem eiskalten Boden. 

Eine Gruppe älterer Männer in der Mitte des Theaterraums redet, trinkt Tee und macht überhaupt keine Anstalten, ruhig zu werden. Die Aufführung beginnt gleich. Ich bin drauf und dran, die Gruppe um Ruhe zu bitten, da stellt sich heraus: Die Männer sind der Chor. Im echten Leben Putzmänner, Wächter, Hilfsarbeiter der Uni, improvisieren sie das Volk, das über Antigones Verhalten diskutiert. Was für ein herrlicher Einfall!

Die Schauspieler sind alle männlich, die Darsteller der Antigone und der Ismene spielen unter der Burka. Ismene wird von zwei Schauspielern abwechselnd gespielt. Der vorgesehene Schauspieler ist vorgestern unversehens zu einer Beerdigung eines entfernten Bekannten abgereist. Die beiden Ersatzleute teilen sich nun den Text.

Ich bin sehr beeindruckt von dieser archaischen Aufführung.

23. November

Besuch beim Minister für Information und Kultur. Ein hässlicher Plattenbau aus sozialistischer Zeit. Drinnen überall Bewaffnete. Das Kabuler Nationaltheater ist noch immer eine Ruine, Renate Elsaeßer und ich wollen eine internationale Unterstützung für den Wiederaufbau organisieren. Der Minister sieht sie nur an: „Allem, was Sie tun, gewähre ich unbesehen meine Einwilligung.“

Wir planen ein internationales Theaterfestival für den Herbst 2004. Julia Afifi wird es organisieren und eine eigene neue Produktion vorstellen. Das Deutsche Schauspielhaus ist eingeladen, das Festival mit Becketts Warten auf Godot in der Regie von Jan Bosse zu eröffnen. 

Renate Elsaeßer wird das Land zum Jahresende verlassen.

September 2004

Nach dem schweren Bombenanschlag der Taliban, bei dem mehrere Menschen getötet wurden, ist die Lage wieder unsicherer. Das Internationale Theaterfestival in Kabul wird wenige Wochen vor den ersten freien Präsidentschaftswahlen aus Sicherheitsgründen abgesagt. 

Julia Afifi macht notgedrungen ein innerafghanisches Festival daraus. Sie wird ihre Inszenierung der Drei Schwestern vorstellen.

Die Wildheit und Schönheit dieses Landes lässt uns nicht mehr los. Oft denke ich an unseren wunderbaren Ausflug zum Grab von Ahmad Schah Masud, dem ermordeten Führer der Nordallianz.

Wir wollen unbedingt wieder nach Afghanistan reisen, selbst der um ein Haar erschossene Chefdramaturg, der in den Straßen viel Aufmerksamkeit erregte, weil er aussieht wie der Bruder von Präsident Karsai.

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