„Auf der Suche nach der Theatralität“ Frankfurter Rundschau, 20. Mai 2008
Eine Festivalreise von Tom Stromberg
Eine Theaterreise von Berlin über Mülheim und Düsseldorf nach Brüssel. Zuerst fahre ich zu René Polleschs „Liebe ist kälter als das Kapital“, gezeigt bei „Stücke `08 – 33. Mülheimer Theatertage NRW“. Dieses verdammte Mülheim zieht einen immer wieder an. Die Schönheit kann´s nicht sein, stattdessen sind dort die besten Theaterstücke der Saison im Mai zu sehen, wie die besten Stücke im November beim „Impulse“- Festival. Ab 7. Juni beginnt hier Polleschs Ruhrtrilogie, bestehend aus drei Uraufführungen in drei Jahren (jeweils in Koproduktion mit der Volksbühne Berlin) als Beitrag zur Kulturhauptstadt RUHR.2010. Uraufführung von Teil 1 2008 ist „Das Tal der fliegenden Messer“. Welch ein Coup, den wachesten politischen Kopf der zeitgenössischen Theatermacher an Mülheim zu binden! Hier war er viermal eingeladen zu „Stücke“ und hat zweimal den Dramatikerpreis gewonnen. Dass Pollesch jetzt so präsent ist an der Ruhr, ist übrigens ein Verdienst von Festivalleiter Udo Balzer-Reher, dem Ruhr-Geologen, sprich Urgestein, einem herzlichen Reiseführer und Ideengeber für die Region.
Weiter geht’s nach Düsseldorf, inzwischen ist es heiß wie im Hochsommer. Idiotische Jeepfahrer überholen Cabriolemuren im Rundverkehr um die Kö. Hier steht die Schule, die Franjo Pooth das Abitur verweigert hat – wie wir jetzt wissen: zu Recht. Und um die Ecke befindet sich das Forum Freies Theater, der Düsseldorfer Ort für zeitgenössisches Off-Theater aus allen Teilen der Welt. Das FFT ist Gastgeber des Festivals „Freischwimmer“, dieses Rundreisefestivals von Wien über Zürich und Hamburg bis nach Berlin, das sich als Plattform für junges Theater versteht. Bei der Gruppe „White Horse“ und ihrer Performance „Trip“ fehlte wohl der Bademeister für die Freischwimmer. Wir fordern hitzefrei! Stattdessen erschöpfen sich zwei Darsteller (eine dritte Darstellerin ist an diesem Abend verletzt, aber sie machen eh alle drei dasselbe) auf der Stelle: Rennen – stummes Schreien – hecheln bis zur völligen Verausgabung. Das Alles, um zum Schluss zu einer zugegeben guten Pointe zu kommen – aber deshalb fast eine Stunde Langeweile aushalten? Am Ende schauen die Darsteller kaputt, aber charmant ins Publikum und fragen, ob noch jemand etwas sagen möchte. Leider tun das dann auch noch ein paar Idioten, schnell weiter, in den Thalys nach Brüssel. Die Flohmarkttermine sind rausgesucht und der Eröffnung des berühmten „kunstenfestivaldesarts“, das 2008 zum elften Mal stattfindet, wird entgegengesehnt.
Direktor Christophe Slagmuylder hat angerichtet: Das Festival in der Beursschouwburg erwartet den Besucher mit dem Slogan „art you can get down the press is gone“. An großen Tischen wird man von Céleste begrüßt, die von riesigen Notizblöcken an der Wand Zettel abreißt und sie als Tischdecke kredenzt. Céleste ist das Überbleibsel aus einem Marcel Proust-Projekt von Guy Cassiers, die Kostümbildnerin Valentine Kempynck führt diese Figur als Gastgeberin weiter, „engelt“ im weißen Kleid durch den Raum.
Dann die Eröffnungsinszenierung aus flämischer Hand: Kris Verdonck, Künstler auf der Schnittstelle von bildender Kunst, Technik und Theater, auf der Grenze von Installation und Performance, hat eine Art Objekttheater aus Subjekten geschaffen. „End“ ist eine hochtechnisierte Perfomance mit Spielern, die von rechts nach links durch einen Bühnenraum dirigiert werden. Draußen ist es heiß und im Theater regnet es – Menschen. Aus mehreren Metern Höhe fällt im Verlauf der 90 Minuten rund 30mal ein Mann vom Bühnenhimmel rücklings auf die Bühne – steht auf – schüttelt sich – geht weg und kommt wieder. Der beeindruckendste Moment einer ansonsten etwas langatmigen Hängepartie.
Vielleicht wäre man besser zur deutschen Eröffnung gegangen. Parallel zu Verdonck liefen „Call cutta in a box“ von Rimini Protokoll, eine Computerbegegnung per Skype mit indischen Angestellten eines Callcenters, die bereits am HAU in Berlin zu sehen war, und „Stifters Dinge“ von Heiner Goebbels, eine Musikmaschine, gediegen perfekt auf höchstem poetischem Niveau. Deutschland ist außerdem mit VA Wölfls Neuer Tanz und der in Berlin lebenden Eszter Salamon würdig vertreten.
Getrieben von der Suche nach noch mehr Theatralität reise ich ins neue WIELS, einem internationalen Labor für zeitgenössische Kunst in Brüssel. Hier hat Mike Kelley außerhalb des Festivalprogramms eine Ausstellung mit dem Titel „Educational Complex Onwards 1995 – 2008“ eingerichtet. Kelleys Ausbildungsstätten sind hier als Modelle aufgebaut ebenso wie seine Entwürfe zu Highschool-Aufführungen. Ausgestellt ist der komplette Fundus des Theaters – Situationen, Räume, Figuren, Kostüme -, bestechend nicht die Fantasie, sondern die Kraft der Bühnenräume, die nach Bespielung schreien.
Hier könnte die Reise ruhig zu Ende sein, aber es wartet noch versteckt – ebenfalls nicht im Festivalprogramm – in den Studios des Kaaitheaters „Needlapb 14“. Jan Lauwers und seine Needcompany erlauben uns in diesem Needcompany-Laboratorium einen Einblick in ihre neue Produktion „The Deerhouse“ („Das Hirschhaus“), nach „Isabellas Room“ und „The Lobstershop“ der dritte Teil einer Trilogie. Die Uraufführung wird Ende Juli bei den Salzburger Festspielen stattfinden – verraten darf hier nichts werden -, es sind noch Wochen bis zur Premiere. Aber da im Zuschauerraum bereits die Trüffelschweine der Avantgarde gesichtet wurden—sprich einige Journalisten ausgewählter Fachblätter—schon mal soviel: Das Erzählen von Geschichten –inzwischen wieder gern gesehener Vorgang auf deutschsprachigen Bühnen – wird bedient. Wir folgen Eltern und Kindern, lernen ihre Biografien und das Zusammenleben mehrerer Generationen kennen, sind mit Tod und Mord konfrontiert. Aber Lauwers verrätselt die Geschichte immer wieder, webt zweite und dritte Ebenen ein und mystifiziert Mord und Tod durch vielmaliges Sterben und Wiederauf(er)stehen, begleitet vom Tanzen und Singen der neuesten und schönsten Kompositionen der herrlichen Needcompany.
Dann rein ins Flugzeug, zurück nach Berlin, genauer gesagt nach Tempelhof, der schönsten Kulisse Berlins, die bald nur noch Geschichte ist.
Im Gepäck René Pollesch, Mike Kelley und Jan Lauwers. Die drei müssten unbedingt mal zusammenarbeiten – das muss ich ihnen unbedingt sagen.
Frankfurter Rundschau, 20. Mai 2008