„Festivals sind wie Fernsehen – das geht so nicht weiter!“ Cahier de l`Atelier: Arts festivals fort he sake of art? European Festivals Assoziation EFA Books 3 (2008)

Veröffentlicht von Thomas am

Kommentar zu den Interviews mit Frans de Ruiter, Darko Brlek und Gavin Henderson, Rose Fenton und Brian McMaster, Nele Hertling und Bernard Faivre d`Arcier und den Beiträgen von Ritsaert ten Cate, Gerard Mortier und Rose Fenton

Von Tom Stromberg

Mitarbeit Susanne Eigenmann

Die Leitung eines Festivals ist eine anspruchsvolle Aufgabe und harte Arbeit und ich habe allen Respekt vor den Persönlichkeiten, die hier zusammen gekommen sind, um zu diskutieren und ihre Erfahrungen weiterzugeben. Sie alle sind kreative, sehr erfahrene Schöpferinnen und Schöpfer neuer Kunst-Universen auf Zeit und haben bereits jetzt Festivalgeschichte geschrieben. Es ist natürlich eine große Ehre für mich, dass ich gebeten wurde, an dieser Stelle ihre Statements zu kommentieren, denn seit vielen Jahren habe ich selbst enorm profitiert von der Arbeit der Gründermütter und -väter bedeutender Festivals. Ich sehe mich hier als Vermittler zwischen ihnen und der jungen Generation der Festivalmacher. Natürlich kann ich mit meinem Statement in der Kürze nicht jedem Diskussionsteilnehmer und Autor gerecht werden. Aber es geht mir auch in erster Linie darum, Tendenzen der Statements aufzunehmen, um mir ein Bild zu machen von einer möglichen Zukunft der Festivalidee.

Meine These zur Zukunft von Festivals (zugegeben radikal): Ziel allen Nachdenkens über Festivals müsste ihre (zeitweise) Abschaffung sein! Warum? Festivals waren in den vergangenen Jahrzehnten einfach zu erfolgreich: Alle Städte und unser tägliches Leben sind zum Festival geworden! Wir brauchen eine Festivalpause! Und dann? Festivals, sagt Ritsaert ten Cate zu Recht, müssen neu erfunden werden, sie sind Container für alles, was wir wollen. Und von Zeit zu Zeit, meine ich, müssen wir radikal darüber nachdenken nicht nur darüber, womit diese Container gefüllt werden sollen, sondern auch darüber, ob – die Containerform noch passt. 

Die Skepsis gegenüber großen internationalen Festivals ist in den vergangenen Jahren gewachsen. Viele Festivals sind allzu deutliche Zeichen dafür geworden, dass eine beliebige Einkaufsmentalität wie im Supermarkt auch vor der Kunstpräsentation und Kunstvermittlung nicht Halt gemacht hat. Allein volle Geldbörsen können scheinbar ein Aufsehen erregendes Programm von größtmöglicher Aktualität gewährleisten. Die Zeichen mehren sich aber, dass Konsumismus keine produktive zeitgemäße Haltung gegenüber aktuellen Kunstentwicklungen mehr sein kann.

Festivals mit einem Programm zum Konsumieren wie Fernsehen verlieren zunehmend an Spannung und Zuspruch – das geht so nicht weiter.

ENTWICKLUNG UND DIAGNOSEN

Nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden mit Festivals wie Edinburgh, dem Holland Festival und Aix enorm wichtige temporäre Kunsträume, die versöhnen wollten (Brian McMaster erinnert z. B. daran, dass Edinburgh den Emigranten Bruno Walter mit den Wiener Philharmonikern zusammenbrachte), neue Werte etablierten und das Publikum mit neuen Kunstentwicklungen bekannt machten. Seit den 60er Jahren standen dann Entdeckungen neuer Kunstformen im Fokus. Rose Fenton sah als Studentin damals ganz neues Theater mit Musik und Bewegung ohne Dominanz des Textes und wusste, dass sie so etwas auch machen wollte: LIFT – London International Theatre Festival – entstand und mit ihm ein Schub der Internationalisierung des Theaters, gegen die es noch weit verbreitete Abwehr gab. Auch Nele Hertling betont, dass das damals sehr angesehene deutsche Theater große Skepsis gegenüber internationalen Einladungen hegte: „Warum?“, fragte man, „ wir haben doch alles selbst hier“. 

Eine dritte und wie die anderen beiden sehr erfolgreiche Motivation für Festivals war die Vermittlung von Kunst an ein breiteres Publikum, wie sie z. B. in Avignon geleistet wurde. Aber auch diese Bemühungen sind an ihre Grenzen gestoßen.

Festivals seien derzeit in der Krise, wird zu Recht von den Festivalleitern diagnostiziert, da doch heute jede Großstadt ein Bienenkorb tausender Angebote und Aktivitäten ist und damit zum Dauer-Festival mutiert.

Wir mussten jung sein, schreiben die Beiträger, denn unser Job bedeutete eine Reise in unentdecktes Land.

Diese Reise ist an ihr Ziel gekommen, behaupte ich. Wir kennen (vermeintlich) alles.

WAS LEISTEN FESTIVALS, WENN SIE GUT SIND? UND WAS KANN DIE FESTIVALLEITUNG DAZU BEITRAGEN?

Die Beteiligten sind sich darin einig, dass das Besondere an Festivals ist, dass sie Außergewöhnliches und Riskantes anbieten können, wie es im laufenden Theaterbetrieb nicht möglich ist, dass sie getragen sind von einer ganz eigenen Atmosphäre und einem besonderen Gruppenerlebnis.

Festivals sind Transfer-Organisationen, sind Orte des radikalen Experimentierens und Übertragens neuer Ideen und Ästhetiken in die Köpfe des Publikums und der Künstler untereinander. Brian McMaster sieht sogar eine Verantwortung des Festivalleiters darin, künstlerische Risiken einzugehen, die ein Intendant eines festen Hauses nicht eingehen kann. Aufgabe eines Festivalleiters sei es, zu wissen, was das Publikum sehen will, bevor es selbst weiß, was es sehen will. 

Wenn Festivalleiter überzeugt seien von den ausgewählten Arbeiten und ihre Künstler schützen und unterstützen, dann könnten sie auch die Zuschauer heranführen an schwierige Arbeiten, so wie Brian McMaster Edinburgh mit Schönberg eröffnete und Publikum und Presse zunächst schockierte, aber später mit seiner Radikalität doch überzeugte. Ritsaert ten Cate stellt heraus, dass ein Festival ein Experte im Schaffen von Meinungen sein müsse, ein Abenteuer, eine Suche nach dem Unvergleichlichen.

Natürlich müssen wir ein solches anspruchsvolles Verständnis von Festivals schützen und bewahren, aber reicht das für die Zukunft?

Dass Festivals Künstler international bekannter machen, sie durch länger andauernde Zusammenarbeit oder als Artists in Residence unterstützen und auch mal produzieren, ist inzwischen längst nicht mehr so aufregend. 

Das alte Vokabular hat seine Strahlkraft verloren.

WIE MACHEN WIR STÄDTE UND UNTERNEHMEN FÜR UNSERE KÜNSTLERISCHEN ZIELE NUTZBAR?

Wenn Festivals beliebt seien und auf hohem künstlerischem Niveau agierten, dann könnten sie auch instrumentalisiert werden fürs City-Marketing, meinen die Diskutanten. Ritsaert ten Cate warnt davor, diese Entwicklung zu bekämpfen: Nur wenn wir die Forderungen von Tourismus und Stadtmarketing kennen und mit einbeziehen, könnten wir verhindern, bei lebendigem Leibe von ihnen aufgefressen zu werden. Ein Beispiel geben die Beteiligten mit BMW und dem Theaterfestival „Spielart“ in München: Neues Design, neue Produkte, Innovations- und Risikofreude seien laut BMW Gemeinsamkeiten ihres Unternehmens und des Theaterfestivals „Spielart“. BMW verstehe seine Förderung nicht als Sponsoring sondern als „citizen participation“.

Natürlich wollen Festivalleiter verhindern, dass die Künste immer mehr zu einer Ware werden, die lediglich konsumiert wird, dass Künstler bloß „gekauft“ werden. Dafür müssen sie aber die Künstler beim Wort nehmen und auch die Unternehmen und die Perspektive ändern: Der Künstler ist doch längst dabei, sich zum Leitbild dieser Gesellschaft zu entwickeln. Kreativität, vernetztes Denken, Grenzen überschreitendes Arbeiten, unkonventionelle Lebens- und Wohnformen sind nur einige Schlüsselwörter dieser Entwicklung. Die Künstler und mit ihnen die Festivalleiter dürfen sich nicht mehr als Bittsteller verstehen oder als „Partner“, die mit Angst oder Verachtung auf das Geld des Unternehmens schielen. Im Gegenteil brauchen Unternehmen die Künstler und ihre Innovationen, sie brauchen das Image von Kreativität und neuen Arbeitsformen, weil sie ganz genau wissen, dass der gesellschaftliche Wandel ihre herkömmlichen Werbeformate, aber auch mehr und mehr ihre traditionellen Arbeits- und Produktionsbedingungen obsolet macht.

UND DAS PUBLIKUM?

Hinzu kommt für die Teilnehmer die Frage nach aktuell gelingender Vermittlung. Gerard Mortier bedauert, dass junge Menschen z. B. nicht mehr „Faust“ kennen, obwohl doch die Bedeutung von Kunst ungebrochen wichtig sei als Förderer von Kommunikation, als Deutung von Welt, Emotionen und Unbewusstem (Hans-Thies Lehmann), als Interpret von politischen und sozialen Entwicklungen. Er setze sich für Bildungsprogramme fürs Publikum ein, um ihm den Weg ins Theater zu ebnen. Man müsse die Zuschauer ja nicht erziehen, aber man sollte eben mit ihnen kommunizieren.

Die Rolle des Zuschauers ist in den darstellenden Künsten immer wieder spielerisch hinterfragt und neu gestaltet worden. Und Festivalleiter wie Theaterdirektoren haben keine andere Idee, als das Publikum zu belehren? Sicher ist Vermittlung wichtig, aber sie kann nicht darin verharren, kulturpessimistisch den Rückgang an Bildung beim Publikum zu betrauern. Bevor der Festivalleiter Gefahr läuft, zum Lehrer zu werden, meine ich, sollten Festivals sich selbst neu erschaffen als Vorreiter beim Experimentieren mit neuen Formen der Publikumspartizipation.

WIE KANN SS WEITERGEHEN? 

PLÄDOYER FÜR EIN NEUES VERSTÄNDNIS VON FESTIVALS

Die Rolle des Festivalleiters wird sich in Zukunft ändern müssen. Rose Fenton berichtet von der Entwicklung bei LIFT: Statt weiterhin in der Person eines Festivalleiters die Visionen einesMenschen absolut zu setzen, werden dort mehrere Kuratoren in einer beweglichen Struktur, dem LIFT Parlament, eingesetzt: Zehn Suchende schlagen Programmpunkte vor, die sehr flexibel zusammengesetzt werden. Auch Ritsaert ten Cate plädiert für einen ungewöhnlich arbeitenden Festivalleiter, der sich – so seine überraschende und witzige Idee – an dem Bären Winnie Pooh orientiert. Festivalleiter nach seinem „Vorbild“ lotsen als selbsternannte Führer durch den dicken Nebel und suchen nicht zielgerichtet, sondern offen für Entdeckungen, sie machen sich keine Sorgen, sondern gehen davon aus, dass sie mit den stochernden Suchbewegungen im Nebel schon finden werden, was sie suchen.

Vielleicht finden die neuen Festivalleiter ja, was sie nicht gesucht haben und das stellt sich als viel zeitgemäßer heraus?

Festivals sollten nach einer Zeit produktiver Suchbewegungen noch einmal neu ansetzen. Und das nicht etwa aus künstlerischen Gründen – die Kunst ist lebendig, aktuell, vielschichtig und spannend wie eh und je. Aber sie hat sich in den letzten Jahren sehr verändert und braucht zur angemessenen Beschäftigung mit ihr ein neues Festivalformat, meine ich.

VOM FERNSEHEN ZUM INTERNET

Festivals neuen Stils werden den aktuellen künstlerischen Entwicklungen gerecht, wenn sie

die Zuschauer als kreative Teilnehmer generieren statt nur als Konsumenten und damit auf neue Entwicklungen reagieren: Das Publikum nicht mehr wie vor dem Fernsehen konsumierend (herkömmliche Festivals), sondern aktiv und kreativ beteiligt wie bei der Nutzung des Internets (neues Festivalverständnis)

sich nicht mehr als Ort der Präsentation begreifen, sondern einen lebendigen gemeinsamen Arbeitsprozess initiieren.

Festivals neuen Stils brauchen keinen Leiter oder Direktor mehr, der an der Spitze der Pyramide steht, sondern einen kreativen Netzwerker, einen Kurator, der das Festival zeitgemäß, nachhaltig, innovativ und zukunftsfähig macht. Als Künstler repräsentiert er nicht mehr als Zentralinstanz im herkömmlichen Sinn an der Spitze des Festivals, sondern arbeitet kreativ in die Breite, initiiert Prozesse, vernetzt Künstler, konfrontiert Traditionen und bietet Konzepte an, die die Zuschauer in ästhetische Arbeitsprozesse einbeziehen.

SAMPLING-PLATTFORM

Der Kurator begreift sein Festival als Sampling-Plattform, als Werkstatt für neue künstlerische Entwicklungen, die nicht mehr dem Genie-Begriff verpflichtet sind, sondern Altes mit Neuem kombinieren, gegenseitig hinterfragen und spielerisch anreichern, „Autorschaft“ reflektieren und Künstlern gute Bedingungen des Zusammenarbeitens bieten (in der Kunst gibt es längst großartige Beispiele dafür).

Mit einem Kurator würden sich die neuen Festivals unter völlig gewandelter Konzeption nicht mehr als Möglichkeit der Präsentation auf Zeit an einem Ort verstehen – sondern als Ort des gemeinsamen Arbeitens. Analog zur künstlerischen Entwicklung haben die Festivals nach diesem neuen Selbstverständnis eher einen Prozesscharakter als dass sie einen Zustand (der Präsentation) zeigen. Nicht die Produktionen würden an den Ort des Festivals geholt, sondern die Künstler – ein gravierender Unterschied.

Das neue Festival ermöglicht die Partizipation am gesamten künstlerischen Arbeitsprozess von den Castings bis zur Aufführung einer fertigen Produktion. Diese Arbeitsschritte mit all ihren Aufgaben, Problemen, ihrer Lust und ihrer Qual, mit Sackgassen und Schnellstraßen der Kreativität macht das Publikum im gesamten Arbeitsprozess mit und begleitet damit den Prozess künstlerischen Schaffens.

Festivals könnten mit einem Kurator aktuelle Tendenzen der Partizipation und Vermittlung in den Künsten aufnehmen und das Festival zum zentralen Ort nicht nur internationaler Performance-Präsentation, sondern auch Performance-Vermittlung und –forschung machen, zur Vernetzungsinstanz von Performern, zur Experimentierstätte und Fachmesse, zum Untersuchungsgegenstand und Mentoring-Ort. Damit würde das Festival die ganze Stadt mit einem Netz künstlerischer Arbeits- und Kooperationsformen überziehen und ein gewandeltes Verständnis vom Verhältnis von „Kunst und Leben“ – leben.

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