„Das 1001-Nacht-Projekt. Der große Theaterregisseur Peter Zadek wird 80. Ist das wahr? In seiner Autobiografie zeigt er sich als einer, der nicht altert, solange er nur erzählen kann“. Die Zeit, 18. Mai 2006

Veröffentlicht von Thomas am

VON PETER KÜMMEL

Jetzt ist schon der zweite Band von Peter Zadeks Autobiografie erschienen, und noch immer wartet man darauf, dass Zadek sich zeigt. Der erste Band (er kam 1998 heraus) heißt My Way und dreht sich um die Jahre 1926 bis 1969, die Fortsetzung heißt Die heißen Jahre und behandelt die Jahre 1970 bis 1980. Beide Bücher zusammen haben 1031 Seiten und umfassen 54 Jahre, aber der Mann, um den es geht, ist noch nicht aufgetaucht. Er hält sich im Material versteckt. Er wird sich zu einem späteren Zeitpunkt offenbaren, vielleicht im dritten oder vierten Band.

Üblicherweise funktioniert eine Autobiografie so, dass der Autor sein Leben umschmilzt zu (gelebter) Kunst. Während der Schreiber seine Zeit verbraucht, häuft er andere Reichtümer an – Weisheit, Erkenntnis, Güte, Einsicht. Indem er Energie verliert, gewinnt er Überblick.

Von diesem Schema hält sich Zadek, der am 19. Mai 80 Jahre alt wird, instinktiv fern, als sei es mit Alter, Kapitulation, Tod gleichzusetzen. Als wolle er sagen: Wenn du anfängst, Sprüche über das Leben zu schmieden, hat der Tod schon gewonnen. So ist der Schatz seiner Erkenntnisse überschaubar, seine Weisheiten tarnen sich als Ratschläge, die Wahrheiten huschen in Nebensätzen vorbei. Das Altern spielt keine Rolle in der Erzählung dieses alten Mannes.

Peter Zadek, der Theaterregisseur, floh, wenn man ihn auf einen Stil festlegen wollte; er lachte, wenn man ihm eine »Handschrift« andichtete; er bekam Atemnot, wenn in seiner Nähe Perfektion drohte. Und auch als Erzähler seines eigenen Lebens ist Zadek ein rastloser Mann.

Die legendären Jahre bei Kurt Hübner in Bremen, die Zeit als Theaterdirektor in Bochum, der bahnbrechende Othello in Hamburg – immer will Zadek nur weiter und überlegt, was er als Nächstes gegen die Langeweile und die Angst tun könnte. Seine Geschichte ist ein Schelmenroman ohne Schelm. Aus seinen Leistungen baut er keine Podeste, von denen aus er auf sein Leben zurückblicken könnte. Kein »Ich fasse zusammen«, auch kein Ehrgeiz, dem Vergangenen eine höhere Form, den Anschein einer Komposition zu geben.

Zadek hat zwei dicke Bücher veröffentlicht, weil er zu faul oder zu beschäftigt war, ein dünnes (durchdachtes) zu schreiben. Er hat sein Leben auf Band gesprochen, und seine Lebensgefährtin Elisabeth Plessen hat es abgeschrieben und konzentriert. So gehen Ärzte mit ihren Diagnosen um. So geht auch Zadek mit seiner Selbstdiagnose um: Es ist gesagt worden, und damit gut. Therapie interessiert ihn weniger.

Man fühlt sich wie der geduldige Zuhörer eines Selbstgesprächs, und ein Grundgefühl des Künstlers Zadek, das Leiden an der Langeweile, grundiert die Lektüre: Das ist doch unerheblich, so klingt’s zwischen den Zeilen, die sich lesen, als habe sie einer dem natürlichen Wunsch nach Vergessen abgetrotzt. Eigentlich, sagt jeder Satz, ist das alles nicht der Rede wert – und dennoch setzt sich Zadek seit 1993 regelmäßig vors Tonband und redet über sein Leben, dabei die eigene Person beharrlich vor der Öffentlichkeit beschützend. Er treibt sein Ich vor sich her, er durchleuchtet es nicht.

Zadeks Autobiografie hat den unaufgeregten, fast blasierten Sachlichkeitssound, den Zadek auch in Interviews bevorzugt. Er ist Zeitzeuge, nicht Kommentator. Das deutsche Volk, aus dem er mit seiner jüdischen Familie floh, erstaunt ihn kühl, es empört ihn nicht. Als er 1958 aus England nach Deutschland zurückkehrt, tut er das, weil er in Deutschland bessere Arbeitsbedingungen findet. Ein Romantiker, ein Zauberer will Zadek nicht sein. Seine Inszenierungen schildert er als Baustellen, hinter deren Absperrgittern er sich mit ein paar Leuten auf die Lösung handwerklicher Probleme eingelassen hat.

An die feineren Muster seiner Persönlichkeit rührt er nicht, und von Ibsens Satz, dichten bedeute, Gerichtstag zu halten über sich selbst, ist der große Ibsen-Regisseur Zadek weit entfernt. Eher verwundert berichtet er vom Privaten. Eros ist ein Antriebsmittel, er hält einen Menschen beweglich und ist insofern nützlich – ein Thema ist er nicht.

Es geht bei Zadek nicht um Kategorien wie Seele, Geist, Innenwelt, sondern um Dinge und Vorgänge, mit denen man Seele, Geist und Innenwelt (wenn es sie denn gibt) stimuliert. Seine Autobiografie ist einer Gebrauchsanweisung näher als einer Lebenserzählung. Fast alles ist ihm Material: »Über die Jahre entdeckte ich durch meinen Arzt noch ein paar andere Stoffe, Valiumderivate wie Tavor und Lexotanil und Adumbran. Ich probierte mal dies und mal das an mir aus, um zu sehen, wie es funktionierte, steigerte aber die Dosen nicht. Durch Zufall entdeckte ich, dass diese Stoffe zusammen mit Alkohol im Magen eine sehr gute Wirkung hatten. Sachen, die bei anderen Downer waren, waren bei mir plötzlich Upper. Da ich zwischen 50 und 60 war, also in einem Alter, in dem man leichter mal müde wird und auch mal einen Upper brauchte, war das sehr angenehm. Ich merkte auch, dass es beim Bumsen nicht schadete.«

Das ist der Siebziger-Jahre-Tonfall, wie man ihn in einem der erfolgreichsten deutschsprachigen Romane jener Zeit findet, in Simmels Der Stoff aus dem die Träume sind. Zadek schreibt einen Simmel über sich selbst. Der Sound dient als Schutzglasur.

»Ich probierte mal dies und das an mir aus« – in diesem Verhältnis steht Zadek zur Welt. Er probiert an sich ein Land, eine Sprache, das Theater, die Kunst, die Frauen, ein Leben aus.

Was er ausprobiert, wird benannt und rauscht vorbei. Die Denk- und Gesprächspartnerin Corinna Brocher, die Lebensgefährtinnen Roswitha Hecke, Elisabeth Stepanek, Elisabeth Plessen, die Spielgefährten Ulrich Wildgruber und Walter Schmidinger kommen etwas ausführlicher vor, der Rest bildet den Rand.

»Wer Kraut war, blieb Kraut, und wer Rübe war, blieb Rübe«

Er fixiert seine Leute beiläufig und, in aller Cool-ness, auch hilflos. Mit Wildgruber konnte er privat nichts anfangen, man hatte sich nichts zu sagen. Pola Kinski hat sich immer ausgezogen. Schmidinger war in psychiatrischer Behandlung. Wenn einer homosexuell ist, wird es immer erwähnt, als sei damit schon ganz viel gesagt und als erübrige sich weitere Beschreibung. Über fast alle spricht er mit einem kühlen Respekt, der eher wie eine Absage, ein Tschüss klingt denn wie eine Einladung, sich doch mal wieder zu melden. Er erledigt ungeheuer viel in wenigen Sätzen, und man hat nicht das Gefühl, dass er seinen Weggefährten mehr mitzuteilen hätte. Er ist ganz froh, nun mit ihnen fertig zu sein. 

Über seine künstlerische »Familie« spricht er so: »Meine Qualität war sicherlich, aus so einem Haufen von kuriosen Individualisten, aus Kraut und Rüben etwas zusammenzubrauen. Es war sicher meine Qualität, ist es wahrscheinlich auch heute noch, etwas zusammenzufügen, ohne alle zu Kraut oder Rüben zu machen. Wer Kraut war, blieb Kraut, und wer Rübe war, blieb Rübe.«

Oder Apfel und Birne, oder Feuer und Öl, oder Zucker und Salz. In Zadeks Buch wimmelt es von Menschen (na ja: Leuten), aber sie machen wenig Eindruck – wie Zutaten in einer Küche oder Farben auf einer Palette. Wichtig ist doch nur der, der diese Sachen mischt und zubereitet. Der sie an sich ausprobiert.

Ein Zadek-Rezept: Nimm nicht den Schauspieler, der sich mit deiner Vorstellung von der Rolle deckt, sondern den, der die Rolle am dringendsten will; nimm den als Hamlet, dem »zwei Zentimeter« zum Hamlet fehlen – »so daß der Zuschauer auf dieselbe unvollkommene Ebene gebracht wird wie diejenigen, die auf der Bühne versuchen, etwas herzustellen, was sie nicht ganz schaffen«.

Ein anderes Zadek-Prinzip ist das der Störung, der unreinen Mischung. Nimm einen ins Ensemble, der nicht hineinpasst. Über seinen Inspizienten Jan Timmerbeil schreibt Zadek: »Ein kleiner Hamburger, der bei den Schauspielern sehr unbeliebt war. Ich insistierte aber auf ihn, da ich immer einen ganz schlechten Schauspieler oder Nicht-Theatermenschen brauche, jemanden, an dem man messen kann, wie Menschen sind.«

»Alles nicht so toll von mir. Aber so war es«

Das ist in seiner Ehrlichkeit bestechend – sofern man nicht Jan Timmerbeil heißt. Dieses Gran Verachtung findet sich in beinahe jeder Menschenbeschreibung Zadeks – auch dann, wenn es um Zadek selbst geht. Als sein Vater im Sterben lag, flog Zadek nach Madeira (es war sein vorletzter Flug, Zadek leidet an Flugangst) und erfuhr dort vom Tod des Vaters. Er hatte geahnt, dass der Vater sterben würde, und hatte dennoch Urlaub gemacht: »…alles nicht so toll von mir. Aber so war es.«

Man liest das alles, man liest es weg, und man hat das Gefühl, einem jungen Mann zuzuhören. Woran liegt das? Vielleicht an Zadeks unermüdlicher Langeweile; sie nährt seine Neugier. Vielleicht am untertourigen Sound, am Verzicht auf alle »Kunst«, womit dieser Erzähler demonstriert, wie ungerührt er ist vom Leben und von sich selbst. Rührseligkeit kommt nicht vor, und Empathie summt nur auf einem tiefen Level unterm Lärm dieses Theaterlebens.

Marcel Proust hat geschrieben, wenn man die Menschen nicht so darstellen würde, wie sie sich im Raum ausbreiten, sondern so, wie sie sich in der Zeit ausbreiten, dann wären sie Riesen, walhafte Erscheinungen, die ganze Landschaften unter sich begrüben. Bei Zadek liegt der Fall anders: Sein Zeitkörper ist schlank und flink, ein auf der Stelle hüpfender Ball aus Ungeduld und Überdruss.

Zadek hat ein langes Leben gehabt, aber es hat ihn nicht erfüllt. Er könnte sagen: Ich bin wohl dabei gewesen, aber ich bin es nicht gewesen (der es geführt hat).

Wenn Zadek nun so weitermacht, wird er 2014 den Band über die achtziger Jahre und 2022 den Band über die neunziger Jahre vorlegen. Wie jedes große Erzählprojekt ist Zadeks Lebensbuch ein Buch gegen das Enden, ein 1001-Nacht-Unternehmen; solange er erzählt, wird es weitergehen. Solange das Rätsel nicht gelöst, das Wesentliche nicht enthüllt wurde, ist die Geschichte nicht aus. Und er, Zadek, hat sich ja noch nicht gezeigt.

Peter Zadek: My Way Eine Autobiographie 1926–1969; Kiepenheuer & Witsch, Köln 2004; 608 S., Abb., 14,90 € Die heißen Jahre 1970–1980; Kiepenheuer & Witsch, Köln 2006; 425 S., Abb., 22,90 €

DIE ZEIT, 18.05.2006

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