„Der Moment, von dem nichts bleibt. Über die Verästelungen von Bühnenästhetik“. Süddeutsche Zeitung, 16.Januar 1992

Veröffentlicht von Thomas am

TOM STROMBERG

Süddeutsche Zeitung, 16.01.1992

Über die Verästelungen von Bühnenästhetik

Der Versuch, Literatur über das Gegenwartstheater zu finden, mißlingt. Über die „Avantgarde“, die „Moderne“, in philosophischen Schriften und über die Bildende Kunst wird viel publiziert. Aber die „dramatische“ Kunst, das Theater, wartet auf gedruckte Leitfäden. So wird deutlich, daß es keine gültigen Theorien über unsere Arbeit gibt, daß keine lineare Struktur, kein roter Faden den irritierten Blick sicher durch das Labyrinth der Wirklichkeit leitet. Sprunghaft und fragmentarisch sind Stichwörter zur Arbeit am Theater. Nichts klärt sich schnell, und an die Stelle des deutenden Begriffs wird das Eingeständnis der Unvollendbarkeit des eigenen Kommentars gesetzt, der Fragen aufwirft, statt sie zu beantworten. Weit davon entfernt, gültige Maximen für zeitgenössische Theaterarbeit anpreisen zu wollen, geht es vielmehr um eine „Standort-Bestimmung“, um den Blick in eine noch unbestimmte Zukunft. Wo auf dem Bildschirm die Realität simuliert wird, muß Wahrnehmung den sie überschwemmenden Bilderfluten hinterherhetzten, sie muß die notwendige Distanz aufgeben, und reagiert nurmehr rein rezeptiv: Der Betrachter wird an die Bildströme wie an einen Stromkreis angeschlossen. Im heutigen Theater wird die Wahrnehmung selbst zum Thema gemacht. Die lineare Handlungsstruktur wird in ein Geflecht verschiedener Zeichensysteme aufgelöst. Sie selbst ist ein mögliches Zeichen, und alle zusammen werden neu wahrgenommen und müssen entschlüsselt werden. Bilder werden im Theater heute nicht mehr auf ihre Kommentarfunktion verkürzt, sind weniger Illustration einer Vorlage, sondern werden ihrerseits zum Sprechen gebracht. Die Arbeiten Jan Fabres oder auch Jan Lauwers eröffnen sich nur dem Betrachter, der nicht versucht, die wirklichen freien Assoziationen der Einbildungskraft auf die Logik eines Arguments zu verkürzen. Jan Hoet, der Leiter der nächsten documenta, sagt: „Die Kunst zeigt das Nicht-Sichtbare“. Theater zeigt das Nicht-Sichtbare unmittelbar. Indem es die Sicherheit und den Trost der guten Form und des Geschmacks hinter sich läßt und auf etwas Abwesendes verweist, entsteht im besten Fall ein Augenblick, der in seiner Unmittelbarkeit einmalig ist. Am Ende einer solchen Aufführung muß nichts zurückbleiben. Stunden nachher brauchen wir keine Betroffenheit, kein Zuschauer muß geläutert werden. Entscheidend ist der einmalige Moment, der für jeden Zuschauer anders, unwiederholbar ist.

Ein Gegenbild zur traditionellen Struktur mit ihrer Hierarchie von Wichtig und Unwichtig scheint mir das von Deleuze / Guattari eingeführte „Rhizom“ zu sein; als Begriff aus der botanik bezeichnet es einen Wurzelstock, der sich nach allen Richtungen verzweigt. Im Gegensatz zur hierarchischen Struktur mit Ursprung, Hauptstamm und Abzweigungen bietet diese Form keine Sicherheit, keinen eindeutigen Sinn mehr, da sie dessen Geschlossenheit abbaut und auf einen vierdimensionalen Raum hin öffnet, der mehrere „Eingänge“ und mögliche Lesarten besitzt. Demgemäß wird auch die Frage nach Original oder Kopie obsolet, die Inszenierung ist nicht länger das Abbild einer einmal formulierten Wahrheit, sondern markiert die Unabgeschlossenheit des Sinns. Wir sind längst an dem Punkt, wo alles schon da war. Zitieren wird heute zum wichtigsten Mittel, die Abgeschlossenheit des Sinns aufzubrechen, und solange das Zitat, das schon einmal Dagewesene intelligent benutzt und ausstellt, ist es eine neue Kunst. Durch das Zusammenspiel von Raum, Musik, Licht, Stimmen und Körpern schafft sich diese eine eigene „Logik“, die nicht welterklärendes System sein will, sondern ein vielstimmiger Raum, der die Bedingungen des theatralischen Prozesses thematisiert und zur subjektiven Lektüre auffordert. Nach den Handlungs- und Literaturballetten des klassischen Tanzes und während im Sprechtheater immer noch über den Naturalismus nachgedacht wurde, gab es neuere Entwicklungen im Tanz, die die Symbiose von Bewegungsfigur und deren Gehalt auflösten zu einer abstrakteren Form des Erzählens. Merce Cunningham etwa isoliert Zeit, Raum und Körperbewegung als autonome und eigenständige Faktoren, die sich zu immer neuen Kombination zusammensetzen und so den Tanz selbst reflektieren. Indem er das tänzerische Bewegungsvokabular von der (eindeutigen) Bindung an eine Bedeutung löst, zeigt er auch die Willkürlichkeit der Beziehung zwischen der Bewegung und ihrer Bedeutung als Abhängigkeit vom theatralischen Kontext. Seine Choreographien lassen sich nicht „verstehen“ in dem Sinne, daß das Medium Tanz einen Inhalt transportieren würde, der außerhalb seiner selbst läge, sondern nur – in seinen Bedeutungsüberlagerungen – nachvollziehen und beobachten. Kategorien wie „sinnvoll“ oder „sinnlos“ sind im modernen beziehungsweise postmodernen Tanz, der seine Mittel nicht an einer Fabel und die Fabel nicht an ihren Mitteln messen läßt, gänzlich überflüssig geworden. Es geht doch auf seiten des Zuschauers vielmehr darum, sich von den eigenen Entdeckungen überraschen zu lassen. Die Vorstellung vom Tanz als originäre Kreation wird aufgegeben zugunsten eines Geflechts („Rhizom“) aus Strukturen, Zeiten und Räumen, Eigenem und Fremdem. Indem man die spezielle Verwebung von Sinn und Ausdruck nachvollzieht, kann man fragen, wie der Tanz das meint, was er tut. Diesem Moment (wo immer man ihn ansiedelt, ob bei Nijinski oder Merce Cunningham) trauert das Sprech-Theater bis heute nach, denn noch immer träumt es den vermeintlichen realistischen Moment als den Inbegriff der Wahrheit. Eine solche eindeutige Wahrheit wird jedoch fragwürdig, angesichts einer Realität, die nicht mehr in ihrer Totalität erlebbar ist. Anstelle einer Wahrheit gibt es im Kunstwerk unzählige Wahrheiten gleichzeitig und sich gegenseitig überlagernd. Diese Gleichzeitigkeit bei Robert Wilson und Phil Glass, bei Laurie Anderson und John Cage ist das Fundament für die heutige Theaterarbeit. Oft war der Ausgangspunkt dafür das Reflektieren über das Theater und seine Mittel. Methode und Verfahren der Theatralität sind nicht länger festgefügte Form, sonder werden – analog zu den Inhalten, die in ihr verhandelt werden – zum Freiraum für die Wahrnehmung des Zuschauers. Zwei Beispiele für solche Freiräume des Zuschauers in Vorstellungen: „Invictos“ nach Hemingway, inszeniert von Jan Lauwers; am Ende der Aufführung eine lange Erzählung; fünfzehn Minuten eine Geschichte aus Hemingways Schlaflosigkeit. Aber auch ein Sprachfeld, das Platz läßt für Phantasien weit darüber hinaus.

Als Theatermacher muß man sich immer mehr spezialisieren, abgrenzen, die Konturen verstärken. Nicht „Alles ist möglich“, sondern für bestimmte Dinge möglichst alles. Die Entscheidung für einen Künstler oder eine Aufführung ist zwar immer eine persönliche, die aber als solche durchaus einem bestimmten Konzept, einem inhaltlichen Gedanken verbunden ist. Theaterarbeit ist dann am kreativsten, wenn die Inszenierungen durch alle Bestimmungen hindurch prinzipiell offen bleiben, Projektcharakter haben. Ausgehen von einer Idee, einem Buch oder einer Epoche beginnt das Abenteuer des Suchens nach einer Textfassung und nach Schauspielern, die bereit sind, sich auf eine Arbeit einzulassen, die keinem festgelegten Text folgt, sondern das Risiko eingeht, Sehgewohnheiten zu widerlegen oder zu provozieren.

Neue Formen

Für bestimmt Dinge möglichst alles, das heißt auch, sich immer wieder auf die Suche begeben nach neuen Formen und einer neuen Sprache, nach Bildern und Zeichen. Kostja aus Tschechows „Möwe“ in der Inszenierung von Elke Lang hat es wüst gefordert: „Wir brauchen neue Formen, und wenn es sie nicht gibt, dann brauchen wir besser gar nichts.“ Diese Unbedingtheit der Forderung führt zu einer Radikalität, die immer eher von Rückschlägen und Verrissen denn von Zustimmung begleitet ist. Inszenierungen wie Jan Fabres „Sweet Temptations“. „Newtons Casino“ von Michael Simon und Heiner Goebbels, die Arbeiten von Pina Bausch, Robert Wilson und der New Yorker Wooster Group sind anstrengend und anregend dadurch, daß sie uns nicht in Ruhe lassen, unsere Seh- und Denkgewohnheiten angreifen. Ein Theater muß sich hinter solche Aufführungen stellen gegen jede Unbill von außen. Kein Lamentieren über schlechte Presse, uneinsichtige Kulturpolitiker.

Eine denkbare Möglichkeit, eine neues Modell hat sich in den letzten Jahren zwischen gleichgesinnten Theatern in Europa entwickelt. An diesen Häusern wird Theater in Formen ausprobiert, die sonst an Staatstheatern nicht zu realisieren sind. Diese Häuser, unter anderem das Kaaitheater in Brüssel und das Hebbel-Theater in Berlin, aber auch die Festivals, Szene Salzburg und die Wiener Festwochen, gehen bei diesen gemeinsamen Produktionen einen Weg, der von größerer künstlerischer Risikobereitschaft gezeichnet ist. Nicht nur in der Praxis, sondern auch theoretisch wird jetzt ein Versuch gemacht, diese verschiedenen Theater gemeinsam darzustellen: von Februar 1992 an wird es eine Zeitung geben, die unter dem Titel Theaterschrift viersprachig in Brüssel erscheint. Diese Theaterschrift ist eine Zeitschrift, die Interviews und Artikel über die Motive und Motivationen der künstlerischen Arbeit enthält, die in den fünf Theatern entstanden sind und noch entstehen. Hier wird ein Versuch gestartet, gegen den Mainstream in der Kulturpolitik in Deutschland anzugehen, wo statt über Formen und Strukturreformen nachzudenken, Intendanten durchgereicht werden. Hier werden nur noch Vorgänger des Vorvorgängers, der längst nebenan dessen Nachfolger war, engagiert, und so zu Wiedergängern gemacht. Statt dessen müssen andere Ideen Ausgangspunkt werden für eine Neuorientierung an den Theatern. Zuletzt bleibt noch ein Satz von Jan Hoet: „Die Ultimative Antwort ist die Frage.“

Theater heute, Theater morgen

Ein Theater zu leiten wird immer schwieriger – besonders in Deutschland, so scheint es. Ein Zeichen für diese Dilemma ist die Suche nach fähigen Intendanten. Seit Jahren klagen ehemalige Theaterleiter und jene, die jetzt für die großen Häuser verantwortlich zeichnen, über die Unregierbarkeit der unüberschaubar gewordenen, von vielerlei Zwängen eingeengten Theaterfabriken. Staats- und Stadttheaterstrukturen müßten aufgebrochen werden, kleine Häuser sollten die Möglichkeit haben, ihr eigenes Gesicht zu bekommen. Die SZ bat einige Theater- und Festivalleiter um Vorschläge, Aufsätze, Interviews, in denen sie ihre Gedanken und Visionen zum Theater heute und morgen vorstellen. Heute Tom Stromberg, Chefdramaturg des Theaters am Turm in Frankfurt.

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