„Reform, Reform … Warum soll die ausgerechnet dem Theater gelingen?“. Jahrbuch für Kulturpolitik 2004

Veröffentlicht von Thomas am

In: Jahrbuch für Kulturpolitik 2004, Thema: Theaterdebatte

Tom Stromberg

1. „Weltkulturerbe“ Deutsches Stadttheater

„Ein Gespenst geht um in diesem unserem Lande – das Gespenst der „Einsparungen“. Die Finanzminister und Stadtkämmerer haben das Gespenst losgelassen. Kein Theaterdirektor, der den Schemen noch nicht hat vorbeihuschen sehen.“ Mit diesen Worten beginnt der Kritiker Heinz Josef Herbort in der Wochenzeitung „Die ZEIT“ einen großen Artikel über Theaterreformen, aber nicht gestern und nicht vor ein paar Monaten – sondern vor zehn Jahren. Das Thema ist nicht neu: Das gute alte deutsche Stadttheater gerät zunehmend in Bedrängnis. Die lauwarmen Bekundungen der Kulturpolitiker zum Festhalten am öffentlichen Auftrag der Kunst- und Kulturförderung werden immer kühler, das allgemeine Sperrfeuer der Effizienz macht selbst vor größten und bedeutendsten Kultureinrichtungen nicht mehr halt.

Das deutsche Stadttheatersystem, einmalig in der Welt, braucht, wenn es nach Antje Vollmer geht, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags, schon die Schutzplakette „Weltkulturerbe“. Dabei lässt sich trotz Kritik an dessen finanziellem Hunger mit Recht behaupten: Diese Form der institutionellen Absicherung von Theaterkunst hat sich bewährt. Im Wirtschaftsjargon: Bei konstant bleibender Konsumentennachfrage (rund 35 Mio. Zuschauer jede Spielzeit) und abnehmender finanzieller Ausstattung steigern die Theater unverdrossen die Stückzahl (2493 Neuinszenierungen Spielzeit 01/02). Gut so, sagt der Finanz- und neuerdings auch der Kulturpolitiker, aber die Kosten! 96 Euro Betriebszuschuss laut Deutschem Bühnenverein für jeden Theaterplatz, viel zu viel sei das angesichts der aktuellen Finanzlage. Wirklich? 0,2 % des öffentlichen Gesamthaushalts gehen an Theater und Orchester – zuviel?

2. Die Tradition: Repertoiretheater mit Ensemble

Ich weigere mich zu glauben, dass das Stadttheater an sich nicht funktionieren kann. Es bedarf nur immer wieder der ungeheuren Anstrengung, die künstlerischen Inhalte an die erste Stelle der gemeinsamen Arbeit zu setzen. Das hört sich eigentlich selbstverständlich an. Ist es aber keineswegs, wenn man bedenkt, dass die personalintensiven Tätigkeitsbereiche im Theater, die technischen Abteilungen und die Verwaltung, immer in Bewegung gehalten werden müssen. Der ganze „schwerfällige Apparat“ muss immer wieder neu motiviert werden im Einsatz für hochwertige künstlerische Produktionen.

Angesichts der bisherigen Einsparungen (in Hamburg arbeiten die beiden großen Staatstheater Thalia Theater und Deutsches Schauspielhaus beispielsweise mit real etwa 20% weniger Subventionen als vor zehn Jahren) wird die Frage immer brennender, wie unser in der Welt einmaliges Theatersystem des Repertoire- und Ensembletheaters erhalten bleiben kann – und ob das tatsächlich wünschenswert ist.

Meine Erfahrungen am Deutschen Schauspielhaus nähren die Sorge um das Zentrum des Theaters, den Schauspieler. Wie können Schauspieler auf einem hohen künstlerischen Niveau Theater spielen, wenn das Repertoire-System und ein verkleinertes Ensemble sie zwingen, in bis zu zehn oder zwölf Produktionen gleichzeitig auf der Bühne zu stehen? Da sind immense Leistungen zu erbringen.

Als die finanziellen Umstände der Städte und Kommunen noch höhere Subventionen und damit größere Ensembles zuließen, war das Repertoiretheater mit einem großen Ensemble ohne Frage eine wunderbare Form künstlerischen Arbeitens. In einer Zeit, in der sich nur noch die allerwenigsten Theater ein größeres Ensemble leisten können, muss man die beiden Säulen des Staatstheaters – Repertoire und Ensemble – neu hinterfragen.

Der Ensemblegedanke behält seine Bedeutung vor allem da, wo sich ein Theater große Aufgaben stellt wie die Inszenierung der Klassiker. Ein Theater, das eine Shakespeare-Inszenierung plant, ist selbstverständlich angewiesen auf das Miteinander einer differenzierten Gruppe aufeinander eingespielter Schauspieler: Erfahrene Schauspieler bereichern jüngere Kollegen, junge Schauspieler erleichtern mit ihrem unverstellten Blick neue Zugänge zu den Klassikern. Aber gerade bei Inszenierungen zeitgenössischer Stücke halte ich es für sinnvoll, das Ensemble durch frei arbeitende Schauspieler zu ergänzen. Ich teile nicht die wehmütige Klage über den Verlust des traditionellen Ensemblegedankens. Im Gegenteil schätze ich sehr die Möglichkeit, mit zusätzlichen Schauspielern ungewohnt besetzen zu können, flexibel zu sein für neue Akzente. Ich möchte daran festhalten können, einem Regisseur die freie Wahl seiner Schauspieler zu ermöglichen. Nur so kann er sich so entfalten, wie es ihm zusteht.

Zudem hat die jüngere Entwicklung an den Theatern gezeigt, dass die Schauspieler immer beweglicher werden: Sie haben Kontakte zu Regisseuren an anderen Häusern, sie wollen Filme machen und zum Fernsehen gehen (das Theater kann mit deren Gagen selbstverständlich nicht mithalten). Das gilt es im laufenden Theaterbetrieb zu organisieren und auszugleichen.

Kurzum: Die Zusammenarbeit mit festen freien Schauspielern wird immer unverzichtbarer, die längst praktizierte Kombination von Ensemble und Freien hat sich bewährt und wird in Zukunft vermutlich mindestens genauso wichtig sein wie heute.

Ich will daher den Ensemblegedanken lieber dynamisch neu verstehen. Das Ensemble an einem Theater sind dann nicht nur die Schauspieler, sondern das Ensemble sind die Künstler und Mitwirkenden an einer Produktion gemeinsam, dazu gehören der Ton, das Licht, die Bühne etc. Diese Produktionseinheit ist im Team zuständig und verantwortlich über alle Abteilungen hinweg. Ich meine, dass dieses Verständnis von Ensembles bereits einen wichtigen Schritt auf dem Weg zu einem schlankeren, flexibleren Apparat darstellt, der den künstlerischen Bedürfnissen besser dienen kann.

Das „Weltkulturerbe“ Deutsches Stadttheater ermöglicht mit seinem Repertoire-System ein gemischtes Programm aus einerseits bewährten, durchgesetzten Stücken und Theaterleuten und andererseits neuen Werken und jungen Talenten. Das halte ich für sehr wichtig. So können sich junge Regisseure, Schauspieler und Autoren entwickeln, und das nicht nur in kleinen Theaterräumen, in der Peripherie, sondern auch auf den großen Bühnen. Das hat selbstredend Auswirkungen auf das Selbstverständnis eines Theaters, das dann weniger ein Literaturmuseum, eine Abspielstätte der Klassiker ist, sondern vielmehr ein Labor.

Natürlich stellt sich in wirtschaftlich schwierigen Zeiten die Frage, ob große Theaterhäuser wie das Deutsche Schauspielhaus überhaupt als Labor geführt werden können. Vielleicht kommt es mehr denn je auf die gelungene Mischung an: Der Intendant als Apotheker muss in seinem Sortiment mindestens ein bewährtes Beruhigungs- und ein durchgesetztes Schmerzmittel haben, die immer wieder gern gekauft werden. Nur auf dieser Basis kann er an neuen Medikamenten forschen. Jede künstlerische Arbeit ist ein Forschen, Ausprobieren, Experimentieren und damit ein Risiko. Alles was nur auf den schnellen Erfolg zielt, alles was darauf zielt, kommerziell vermarktbar zu sein, ist mainstream und das, meine ich, sollte man der Popmusik, dem Sport, dem Fernsehen überlassen.

Natürlich freuen sich alle Theaterleute über ein zahlreiches Publikum, nur manchmal ist es auch ihre Aufgabe, ein vielleicht (noch) nicht großes Publikum zur Erkundung neuer künstlerischer Wege zu ermuntern. Das braucht Zeit.

3. … und wie geht´s anders?

Diese Chance, Neues zu präsentieren und ein Publikum anzuregen, ergab sich für mich in den Jahren nach 1985, als das Theater am Turm Frankfurt (TAT) in eine städtische Kulturgesellschaft unter Leitung von Christoph Vitali überführt wurde und ich als Dramaturg und später Leiter des Theaters für Produktionen und Koproduktionen in einem internationalen Netzwerk verantwortlich war. Bei einer En-suite-Bühne wie dieser, mit Aufführungen in Serie, arbeitet man natürlich ganz anders als im Repertoiretheater. Wir haben dort Produktionen erarbeitet oder mit anderen Theatern koproduziert, die in ihrem Entwicklungs- und Probenprozess nicht so eng mit dem Haus verzahnt waren. Das hat große Vorteile, weil man in ganz verschiedene Richtungen experimentieren kann, aber auch den Nachteil, dass die Leitung des Hauses viel schwieriger Akzente setzen und Kontinuitäten pflegen kann als an einem Haus, an dem man den Spielplan gezielter aus der hauseigenen Dramaturgie entwickelt. Zur Zeit wird dieses Modell der frei produzierenden Künstler etwas in den Hintergrund gedrängt. Die Stadt- und Staatstheater versichern sich sehr früh der jungen Künstler (Autoren, Regisseure und Schauspieler), weil sie ein wenig dem „Jugendlichkeitswahn“ verfallen sind (ich nehme unsere Arbeit im Deutschen Schauspielhaus nicht aus). Selbst Regiestudenten, die noch ganz am Anfang ihrer künstlerischen Entwicklung stehen, werden bereits gern als „Messias“ für die Erneuerung der Stadttheater gehandelt.

Ich meine, dass wir beide Modelle in ihrer Verschiedenartigkeit brauchen und nicht gegeneinander ausspielen sollten. Wenn man in Berlin die Theaterlandschaft zwischen Sophiensälen und Volksbühne, zwischen Schaubühne, Podewil und dem neuen Hebbel am Ufer betrachtet, sieht man, wie gut sich das gegenseitig beeinflussen und herausfordern kann.

Im Zentrum der Überlegungen zu möglichen Theaterreformen sollten also weniger die verschiedenen Institutionen stehen als vielmehr die Frage: Wie können wir die Kunst mehr in den Mittelpunkt stellen? Regisseure und Schauspieler suchen sich die Theaterformen, die sie für ihre Arbeit brauchen. Wenn sie an einem Stadttheater gute Arbeitsbedingungen vorfinden, werden sie den subventionierten Freiraum selbstverständlich gern nutzen. Wenn sie andere Bedingungen brauchen, weil sie 

z. B. länger proben oder konzentrierter arbeiten wollen, werden sie sich andere Bedingungen suchen.

Die Stadt- und Staatstheater sind meiner Einschätzung nach in der Regel flexibel genug für künstlerische Experimente. Zwischen dem Deutschen Schauspielhaus und dem jungen Regisseurstrio Haug/Kaegi/Wetzel ist es beispielsweise zu einer sehr schönen Zusammenarbeit gekommen, obwohl Haug/Kaegi/Wetzel den traditionellen Theaterbegriff völlig auf den Kopf stellen, wenn sie für ihre herausragenden Inszenierungen eigentlich nur den Apparat brauchen, das Licht, den Ton, die Bühne als Zeichen, und auf das Zentrum des klassischen Theaterspiels, den professionellen Schauspieler, weitgehend verzichten.

Auch wenn junge Künstler oftmals die traditionelle Aufteilung von Zuschauerraum und Bühne reflektieren oder sogar ablehnen und das interaktive Moment zunehmende Bedeutung in der Theaterkunst gewinnt, bin ich doch fest davon überzeugt, dass die traditionelle Guckkastenbühne Zukunft hat. Avantgarde zeigt sich nicht darin, dass partout das Gegenüber von Bühne und Zuschauerraum aufgehoben werden muss. Jan Fabre, Robert Wilson, Jan Lauwers, Michael Laub und andere sind exzellente Beispiele dafür, dass man mit der Guckkastenbühne hervorragend arbeiten kann.

4. Kunst im Schonraum? Subventionen und Sponsoring

Die öffentliche Hand wird und muss die Förderung des Theaters weiterhin als ihre Aufgabe begreifen. Es muss endlich ein öffentliches Bekenntnis zur Bedeutung von Kultur geleistet werden! Kultur ist mehr und anderes als die Tafelmusik am Tisch der Großen und Unterhaltung für die Massen. Sie konstituiert unsere Selbst- und Fremdwahrnehmung, sie gibt unseren Zukunftswünschen und –ängsten die Gestalt.

Adorno hat einmal gesagt, die Kunst nehme alle „Dunkelheit und Schuld der Welt auf sich“.

Wem das alles zu „idealistisch“ ist: Und sie stellt einen entscheidenden Wirtschaftsfaktor dar. Ich will hier nicht ein weiteres Mal die Schaffung von Arbeitsplätzen, touristischen Attraktionen etc. herbeten, sondern einen Blick in die Zukunft des Wirtschaftsstandorts Deutschland tun. Extrem entscheidend für die Zukunft unserer Gesellschaft wird sein, wie sie mit ihrer Kultur umgeht. Da wir in Deutschland auf absehbare Zeit auf dem Gebiet der industriellen Fertigung sicher nicht mehr von großer Bedeutung sein und auch im Bereich der Dienstleistungen nicht zu den führenden Nationen gehören werden, wird unsere besondere Qualität vielleicht in Bildung, Religion, Philosophie und in den Künsten liegen. Das alte Europa sollte sich mehr auf die Werte besinnen, die seine Bedeutung in der Welt ausmachen: Sein Reichtum an Wissen und Kultur.

Das scheint die Öffentliche Hand immer noch nicht wirklich erkannt zu haben. Nur so lässt sich erklären, dass immer mehr Kulturpolitiker Subventionsgelder als „ihr“ Geld begreifen. Besonders hier in Hamburg muss man den Eindruck gewinnen, dass Förderungen ganz nach persönlichem Gusto gekürzt oder ganz eingestellt werden – so sieht es jedenfalls im Januar 2004 wenige Wochen vor Neuwahlen aus. Dabei soll Kulturpolitik bekanntlich dem Volk dienen und das tut sie am besten, wenn sie nicht auf die schnelle Unterhaltung, auf die sichere Zustimmung setzt. Wenn sie nicht nur die Gegenwart im Blick hat, sondern auch an die weitere Entwicklung denkt.

Kulturpolitiker werden auch in Zukunft die Hauptverantwortung für die Künste tragen. Private Geldgeber werden sicher eine größere Bedeutung bekommen, aber nach wie vor wird ihr Anteil bei der Kulturfinanzierung nur einen verschwindend geringen Teil ausmachen. Ich habe mich mit Sponsoring ausgiebig beschäftigt und sehr positive Erfahrungen damit gemacht. Aber natürlich war es nicht schwierig, bei einer Weltausstellung in Hannover für ein großes Faust-Projekt von Peter Stein Sponsorengelder zu bekommen, dem eine weltweite Aufmerksamkeit und Vermarktung (Fernsehübertragungen etc.) sicher war. Auch in den ersten beiden Spielzeiten des Deutschen Schauspielhauses unter meiner Leitung kam einiges an Sponsorengeldern im Zuge des Neuanfangs zusammen. Sicher kann man vieles tun, indem man die Sponsoren versucht mehr einzubinden, indem man die Häuser öffnet für Veranstaltungen wie die sog. Donatoren-Essen. Nur: Das bedeutet ja nicht, dass das die Öffentliche Hand entlastet. Die privaten Gelder können von ihrer Größenordnung her immer nur Gelder für besondere Projekte sein (das Faust-Projekt ist das beste Beispiel dafür), die Finanzierung der täglichen Arbeit wird Aufgabe der Öffentlichen Hand bleiben. Es ist also fatal zu glauben, dass das die Lösung für die Zukunft ist. Das Ergebnis sieht man in Amerika, wo der Staat sich fast gänzlich zurückgezogen hat aus der Subventionierung: Dort gibt es faktisch kein Theater mehr außer dem Broadway und anderen mainstream-Unternehmungen. Nur noch im Kleinen, in der Wooster Group Garage und ähnlichen Orten in New York, wo noch experimentiert wird, entsteht interessantes Theater.

Der Freiraum, den die Öffentliche Hand für die Künstler schafft, muss also auf jeden Fall erhalten bleiben. Die Entwicklungen auf dem Feld der privaten Geldgeber entlassen die Öffentliche Hand kein Jota aus ihrer Verantwortung.

5. Perspektivenwechsel

In Kabul im November 2003 wollten der Regisseur Jan Bosse und ich eine Aufführung der Antigone sehen. Während des Tages war noch nicht sicher, ob die Premiere am Abend würde stattfinden können. Ein Bombenanschlag auf ein großes Hotel in der Stadt hatte zur Verschärfung von Sicherheitsmaßnahmen geführt, abends durfte niemand das Haus verlassen, die deutsche Botschaft untersagte die Aufführung. Nur dank der Entschlossenheit der dortigen Leiterin des Goethe-Instituts, die sich wie Antigone über ein Verbot hinwegsetzte, konnten wir die Aufführung trotzdem sehen.

Der Raum, in dem wir Platz nahmen, war kein Theater, die Bühne lediglich ein kleines Podest ohne Bühnenbild, die meisten Zuschauer saßen auf dem Boden, ein viel zu kleiner Ofen hielt die ärgste Kälte ab. Die Schauspieltruppe setzte sich zusammen aus Theaterstudenten und einem Laienchor.

Die einfachen Bedingungen schmälerten den starken Eindruck in keiner Weise, den diese afghanische Antigone hinterließ, wenn sie gegen die Tyrannei des Staates ihre eigene Stimme setzte, wenn sie Götter und Familie als Güter begriff, die höher stehen als die Macht der Herrschenden.

Diese beeindruckende Inszenierung der deutsch-afghanischen Regisseurin Julia Afifi erlebte ich bei meinem zweiten Afghanistan-Besuch im Auftrag des Goethe-Instituts. Der Stadt Kabul fehlt es materiell am Notwendigsten, viele Häuser sind nach wie vor Ruinen, Strom gibt es nur zeitweilig. Das Nationaltheater Kabul ist weitgehend zerstört, eine Restaurierung wird in Erwägung gezogen, ist aber längst noch nicht beschlossene Sache. Theaterspiel gibt es in der ganzen Stadt nur in besagtem Raum der Universität. Der wurde im Verlauf eines Jahres mit Hilfe des Goethe-Instituts soweit restauriert, dass das Dach wieder Kälte und Regen abhalten kann, eine Tür Abgeschlossenheit sichert und einige Fenster (längst noch nicht alle) wieder Glasscheiben haben. Es muss noch viel getan werden, bevor man ihn endgültig als funktionsfähige Spielstätte bezeichnen kann.

Natürlich lässt diese Erfahrung keine unmittelbaren Rückschlüsse auf die Theatersituation in Deutschland zu. Aber sie zeigt, welche Bedeutung Kunst für die soziale Situation eines Landes besitzt und in welche Richtung neu über ihr Wesen und ihre „Funktion“ nachgedacht werden kann.

6. Reformen: Innere Notwendigkeit oder Sparzwang von außen?

In der öffentlichen Diskussion sind die großen Stadt- und Staatstheater immer noch die großen, ungelenken Apparate. Mein Kollege Ulrich Khuon vom Thalia Theater hat aber völlig zu Recht klar gemacht, dass sich in den Theatern in den letzten Jahren bereits sehr viel bewegt hat. Mancher Wirtschaftsbetrieb ist längst noch nicht so weit mit seinen Reformen, was etwa die Themen flache Hierarchien, Projektarbeit, Teamorientierung angeht. Auch am etwas unproportionierten Verhältnis der künstlerischen zu den nicht-künstlerischen Mitarbeitern wird längst gearbeitet. Es ist einfach noch keine wirklich überzeugende kreative Organisationsform für künstlerisches Schaffen gefunden. Aber die Theater sind dabei, sich wieder auf den künstlerischen Kern zu konzentrieren. Ich möchte also dem Eindruck widersprechen, als seien Staatstheater reformbedürftige Reptilien, die sich nicht bewegen können.

Mein großer Wunsch ist ein Theater, das sich wie das Deutsche Schauspielhaus mit den verschiedensten Theaterformen auseinander setzt, das Theaterspiel als zeitgenössische Kunstform begreift und damit auf ein Publikum und eine Kulturpolitik stößt, die sich offen und neugierig zeigen für Neues. Das einzig Radikale, was ich im Theater möchte, ist ein Freiraum für Künstler, für ihre Fragen, für ihren klaren, frischen Blick auf alte und neue Texte. Leider sieht der Trend der Gegenwart anders aus. Das breite Publikum und die Kulturpolitik scheinen Theater immer ausschließlicher unter dem Aspekt von Unterhaltung, Event und Wirtschaftlichkeit zu sehen.

Dabei ist Theater viel mehr. Ein Ort der Konzentration in einer Gesellschaft der Überfülle. Ein überlebenswichtiges künstlerisches Distanzmedium neben der vermeintlichen „Nähe“ in Fernsehen und Film als Medien der Psychologisierung, der scheinbaren Intimität der Großaufnahme und der Entblätterung der Seelen in den Talk Shows. Es geht mir nicht darum, die völlig verschiedenen Medien gegeneinander auszuspielen. Aber ich weigere mich auch, die Entwicklung zu immer größerer Einförmigkeit gut zu heißen. Wenn die Bedeutung des Theaters in Zukunft weiter abnähme, wäre das ein großer Verlust für diese Gesellschaft. Das Theater muss seine Eigenart behaupten und sollte wach der Gefahr ins Auge sehen, sich durch museale Erstarrung oder Unterhaltungsgier selbst über kurz oder lang überflüssig zu machen.

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