„Nicht erschrecken, ich bin der Mörder“. Neue Züricher Zeitung, 4. Dezember 2007

Veröffentlicht von Thomas am

Das Impulse-Festival bietet der freien Theaterszene ein Forum

In Bochum, Düsseldorf, Köln und Mülheim fand das Theaterfestival Impulse statt, neu unter der Leitung von Matthias von Hartz und Tom Stromberg. Die besten freien Gruppen präsentierten ihre Produktionen, mitunter so bizarr und phantasievoll wie ihre klingenden Namen. …

VON MARTIN KRUMBHOLZ 

Natürlich ist bei so einem Festival des Gegentheaters alles ein bisschen anders. Da kann es dem Besucher passieren, dass er mutterseelenallein – auf einen Termin bestellt wie beim Zahnarzt – das Foyer betritt, von einem freundlichen Herrn zur «Rezeption» geleitet wird wie in einem Hotel, um schließlich, nach einer angemessenen Wartezeit, von einem «Pagen» auf das «Zimmer No. 6» akkompagniert zu werden, das sich von einem schlichten Hotelzimmer im wirklichen Leben nicht unterscheidet. Ab und zu braust draußen ein Auto vorbei. Stille. Dann flackert der Fernseher auf, nacheinander berichten vier «Zeugen» von einem mysteriösen Mordfall. Wieder Stille. Die Tür wird aufgerissen, man erschrickt gehörig, ein Mann stürzt herein: Hallo, ich bin der Mörder! Oder doch nicht? Beklommen folgt man dem Mann ins nächste Zimmer – wird dort die «Wahrheit» zu finden sein? 

Zuschauer als Komplizen

«Truth lies next door», die gruselige Produktion der Schweizer Gruppe «mikeska:plus:blendwerk», übersetzt den berühmten «Rashomon»-Mythos – eine blutige Dreiecksgeschichte und ihre unterschiedlichen Lesarten – in eine Performance, die dem «Zuschauer» das Zuschauersein brachial austreibt, ihn mit den Mitteln hyperrealistischer Mimikry ins Zentrum einer Interaktion stellt und zu jeder der drei Figuren in eine geradezu intime Beziehung zwingt. Er wird zum Komplizen, zum Partner einer Verschwörung. Im «Gästebuch», das an der Rezeption ausliegt, steht der Satz: «Ich bin jetzt konditioniert für mein ganzes Leben.» 

Die freien Gruppen geben, wenn sie gut sind, Impulse nach außen – die besten von ihnen hat eine Auswahljury aufs Impulse-Festival geladen, nach Bochum, Düsseldorf, Köln oder Mülheim –, und sie reflektieren und verzerren umgekehrt Tendenzen, die sie im offiziellen Theater vorfinden. Selten begnügen sie sich damit, zeitgenössische Dramentexte nachzubeten. Umso häufiger räubern sie im Fundus herum, bedienen sich bekannter Stoffe und Mythen – «Rashomon», «Räuber Hotzenplotz», «Arsen und Spitzenhäubchen» –, um sie mit ihren spezifischen, oft skurrilen Mitteln neu zu deuten oder rabiat auf den Kopf zu stellen. Gelegentlich wird das Erzählen einer Geschichte aber auch demonstrativ verweigert. Exemplarisch dafür ist She She Pop – der Name der Gruppe deutet auf einen ins Unernste gewendeten Feminismus – mit ihrer «Relevanz Show». 

Diese «Show», die die Persiflage und letztlich die Negation einer Show ist, basiert auf der systematischen Ausbeutung des Publikums als einer Art «Spielvieh», Nummerngirls und Kritiker inklusive. Ähnlich wie viele Formate im Radio heutzutage ihr Programm aus der Mitwirkung der Zuhörer schöpfen, ruft hier eine «Inspizientin» genannte Dame, die eigentlich eine Produktionsmanagerin ist, ihre Gäste zum Mitspielen auf, während in der Garderobe (es wird per Video übertragen) die eigentlichen Akteure um Details des Programmablaufs feilschen und streiten. Das Ganze hat durchaus liebenswürdige und auch kurzweilige Züge, doch «relevant» ist der (kleinere) thematische Teil des Abends nur bedingt; der Titel «Kontingenz Show» wäre treffender. 

Es versteht sich von selbst, dass auch das offizielle Regietheater in der Off-Szene ein vielfältiges Echo hervorruft. «Arsen und Spitzenhäubchen» in der Lesart der Berliner Truppe Das Helmi könnte man eine hintersinnige Verfremdung des Kriminalkomödienklassikers mit den Mitteln des Anarcho-Regietheaters nennen. Das Helmi operiert normalerweise ausschließlich mit Schaumstoffpuppen; in diesem Fall konfrontiert der Regisseur Alexis Bug das irrwitzige Puppengesindel – die freiwillig und unfreiwillig Bösen der Fabel – mit einem unbepuppten Liebespaar, das sich in den gegenläufigen Fallstricken der schrägen Vögel heillos verfängt. Der Abend hat ähnliche Redundanzen wie viele theatertreffengewürdigte Hervorbringungen des heutigen Regietheaters, in seinen besten Passagen aber auch mindestens so viel Schärfe und Witz. Und unterhaltsam ist er allemal. Das Helmi hat übrigens noch neun andere Stücke im Programm. 

Statt Agitprop: Hot Dog

Nicht alles ist kreatives Gold, was anarchisch glänzt. In der rührend dilettantischen Darbietung der «Bairishen Geisha» geschieht etwas Seltsames: Was womöglich sanft konterkariert werden soll, das «Berufsmünchenertum» als solches, wird im Gegenteil obsessiv bestätigt; München ist Gegenstand, Thema und letzter Grund aller Dinge. Das kann wirklich nur den Münchner (und allenfalls den Wahlmünchner) etwas angehen. Der «Räuber Hotzenplotz» von Showcase Beat Le Mot dagegen ist witziges, intelligentes Erzähltheater für Kinder (und Erwachsene), ohne dass dieser Rahmen je überschritten würde – schon gar nicht ins Ideologische, wie man es in bewegteren Zeiten zuverlässig getan hätte. Anstelle von Agitprop gibt es in der Pause – Hot Dogs. Ein Schelm, wer dabei Böses denkt! 

Gebiert also das Off-Theater irgendwo noch den subversiven Homunculus, der, platzend vor Ideen, das etablierte System unterwandert? Oder handelt es sich eher um bizarre Sumpfblüten, um schillernde Biotope, die da im ästhetischen «Off» gedeihen und gepflegt sein möchten? Es ist wohl so, dass das offizielle Theater mit seinen ausdifferenzierten Potenzialen Impulse gerne aufnimmt, wie es in den letzten Jahren im Fall von Rimini Protokoll exemplarisch geschehen ist, im Übrigen aber Innovation und Professionalität effizienter verbindet, als es eine freie Gruppe in der Regel leisten kann. Eine «Wiedergeburt des Stadttheaters aus dem Geist der freien Szene», so der Titel eines Symposions im Rahmen des Festivals, ist weder realistisch noch wünschenswert. Immerhin sollte man neugierig bleiben: Wer weiß, ob hinter der nächsten Tür nicht doch eine Wahrheit liegt. 

Neue Zürcher Zeitung, 4. Dezember 2007

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