Freie Theaterszene – „Kämpfen für die Kunst“. kultur.ARD.de, 29. November 2007

Veröffentlicht von Thomas am

Futter fürs Stadttheater

DOROTHEA MARCUS

Viele freie Theatermacher leben am Rande des Existenzminimums. Dennoch entwickeln sie neue Theaterformen, von denen – oft erst Jahre später – das Stadttheater profitiert. Einen Überblick über die Freie Szene liefert jetzt das „Impulse“-Festival in NRW.

Kunstgrusel vor Hotelkulisse: „Mikeska: Plus: Blendwerk“

Plötzlich sitzt man allein im Hotel, obwohl man eine Theaterkarte hatte. Jederzeit könnte jemand aus dem Wandschrank kriechen. Stattdessen geht der Fernseher an und drei Personen erzählen Versionen eines Mordes. Dann knallt die Tür hinter uns auf und ein Mann bezichtigt sich der Tat. Oder war er es gar nicht? Er schickt uns weiter durch die unheimlichen Zimmer: Mal ist ein Bett zerwühlt, mal geht das Licht aus, mal liegt Laub auf dem Boden und immer scheint ein anderer Schauspieler der Täter zu sein. Die freie deutsch-schweizer Gruppe „Mikeska:Plus:Blendwerk“ macht in „Truth lies next door“ Theater zur Kunstinstallation. Die Kulisse ist ein Hotel. Zum Schluss wandert man von außen an dem Labyrinth vorbei, das eben noch so riesenhaft schien: nur ein Haufen gezimmerter Kulissenbretter. Selten ist die Illusionsmaschine Theater so grandios demontiert worden. 

Kämpfen für die Kunst

Mehr Festival, mehr Kunst: Die Leiter Matthias von Hartz (l) und Tom Stromberg

Wieder in der Wirklichkeit zurück, steigt man in einen Bus, in dem zum Essen Hanfriegel und Bananen warten und wird weiter durch Mülheim, Düsseldorf, Bochum und Köln gefahren, in denen noch bis zum 2. Dezember „Impulse“ stattfindet. Nach zweijähriger Zwangspause ist das wichtigste Festival des Freien Theaters, das oft ein Äquivalent zum Berliner Theatertreffen genannt wird, wieder auferstanden. Neue Leiter sind Tom Stromberg, bis 2005 Intendant des Schauspielhaus Hamburg, und Matthias von Hartz, Regisseur und Kurator auf Kampnagel. Sie haben sich vorgenommen, neuen Wind in das vor 17 Jahren gegründete Festival zu bringen, es zu internationalisieren und die freie Szene stärker zu machen. 

Denn das, was in den 70er-Jahren begonnen hat als politisches Aufbegehren gegen etablierte Theaterhäuser begann, ist heute kein Ziel mehr an sich, sondern allenfalls Selbstverwirklichung für Menschen, die woanders genug Geld verdienen. Oder ein temporärer Durchlauferhitzer für eine Stadttheater-Karriere. „Es braucht so ein Festival wie Impulse, um die Freie Szene wieder als Ort zu begreifen, von dem die entscheidenden künstlerischen Impulse für das Theater herkommen“, sagt Tom Stromberg. 

Vom Freien Theater kann keiner leben

Während viele Stadttheater aus Angst vor Publikumsverlust ausgetretene Pfade nur ungerne verlassen, sind es die jungen Theatermacher, die neue, radikale Formen entwickeln. Um sich fürs Stadttheater zu etablieren, müssen sie häufig einen langen dornigen Weg gehen, der mit Geld kaum entlohnt wird. Erst wenn sich Freie Gruppen einen Namen gemacht haben, werden sie gerne vom Stadttheater übernommen – dann haben sie ausgesorgt. Letztlich profitiert das etablierte Theater also von der Selbstausbeutung der Freien Szene. Dies ist sicher auch der Grund, warum keiner der neun Gruppen bei „Impulse“ noch einen klassischen Text inszeniert – das kann das Stadttheater immer noch besser – sondern kollektiv eher neue Materialcollagen und Kunstperformances entwickelt.

Obwohl Deutschland immer noch das Land mit der stärksten Theaterförderung der Welt ist, kann hier kein freier Theatermacher von seinem Job leben. Selbst erfolgreiche Gruppen hangeln sich Jahr für Jahr durch Projektförderungen. Die 80.000 Euro, die die Gruppe „Mikeska:Plus:Blendwerk“ als Projektmittel erhielt, scheinen auf den ersten Blick viel – aber wie sollen davon fünf Menschen für ein Jahr leben? In anderen europäischen Ländern gibt es so etwas wie eine „Freie Szene“ gar nicht, weil dort etablierte Gruppen kontinuierlich finanziert werden. „In Deutschland werden Institutionen mehr unterstützt als die Künstler“, ist Stromberg überzeugt. 

Theater mit dem Joystick

Kampf um die Existenz – jenseits des Stadttheaters

„Impulse“ ist ein Festival, auf dem Talente entdeckt wurden, die heute aus großen Theatern nicht mehr wegzudenken sind: etwa Rimini Protokoll, Sebastian Nübling oder René Pollesch. Wenn man sich fragt, welche Kriterien die neuen Leiter bei der Auswahl angelegt wurden, scheint die Antwort: die größte Bandbreite an Theaterformen zu zeigen. Als wollte man mit aller Gewalt beweisen, dass jenseits der Stadttheater alles möglich ist. 

Etwa mit dem Stück „Fight Club“, ein Boxkampf der Wiener Gruppe „God’s Entertainment“. Junge Kerle mit freiem Oberkörper kämpfen mit Händen und Füßen in drei Runden bis zum Sieg, zu hämmernden Beats und zuckenden Kriegsbildern an der Wand. Zwei Zuschauer bestimmen mit Joysticks, ob die Schauspieler das linke Bein oder den rechten Arm bewegen sollen. Rundherum steht eine teils johlende Menge, angefeuert von zwei Moderatorinnen. Man kann Wetten abschließen, bis einer der Kämpfer erschöpft aufgibt. Doch anstatt vorzuführen, dass dies ein entlarvendes menschliches Experiment sein könnte – immerhin entscheiden die Joystickhalter über Schmerzen und Niederlagen – wird nur kindliche Spiellust vorgeführt. Moralische Grenzen werden nicht weiter ausgelotet, über reine Spiellust geht es nicht hinaus. Manchmal fragt man sich also, ob es bei 400 gesichteten Arbeiten wirklich das Beste war, was die Macher ausgewählt haben. 

Barockoper und Kopftheater

Heiße Kandidaten auf die beiden mit 5000 Euro dotierten Preise sind, neben dem eingangs erwähnten Hotel-Stück „Truth lies next door“, David Martons Barockoper „Fairy Queen oder: Hätte ich Glenn Gould nicht kennengelernt“ oder Ivana Müllers verblüffend einfache Perfomance „While we were holding it together“. David Marton zeigt in seiner schwebend-melancholischen und dabei sehr witzigen Barockoper Musiker in einer Berliner U-Bahn. Hervorragend ausgebildet, müssen sie dort nun für wenig Geld spielen. Sie träumen davon, Purcells Oper aufzuführen und grämen sich, dass sie keine hochdekorierten Stars des Musikbetriebes geworden sind. Den Zuschauer erwartet jedoch ein wundervolles Klangstück – mit Opern-, Jazz- und Zigeunerelementen. Eine geradezu bahnbrechend neue Form der Opernregie. 

Theater im Kopf

Ivana Müllers Performance ist wohltuende Stille und meditatives Kopftheater. Fünf Schauspieler stehen in erstarrten Posen auf der Bühne und stellen sich nur durch Sprache in immer neue Situationen: Sie stellen sich vor, Liebende, Krieger, Statuen oder Darsteller von Joghurt-Reklamen zu sein. Suggestiv wird man hineingezogen in eigene, nur durch Worte angestoßenen Fantasien.

Trashiges Puppentheater, nicht jugendfrei

„Helmi“: Low-Budget-Theater mit Puppen

Den dritten, neu gestifteten Dietmar N. Schmidt-Preis – benannt nach dem kürzlich verstorbenen Gründer des Festivals – hätte das „Helmi“ verdient: Das ist eine anarchische, autodidaktische Puppenspieler-Crew, die ganz ohne öffentliches Geld auskommt. Im ehemaligen Toilettenhäuschen am Berliner Helmholtzplatz führen sie für wenige Euro Eintritt nicht gerade jugendfrei ihre trashigen Ministücke auf, geprobt in den eigenen Schlafzimmern. Am Ende von „Leon der Profi“ gibt es gefühlte dreißig zerknautschte Schaumstoffleichen und einen Verdacht auf Pädophilie, aber es werden auch Märchen und Romane für die Kinder des kreativen Helmholtz-Prekariats nacherzählt. Immer, wenn das Geld nicht reicht, arbeiten die Puppenspieler als Veranstalter oder Webdesigner, Hartz IV finanzierte manchmal mit – auch wenn das in diesem Jahr gar nicht mehr vorkam, sagt einer der „Helmis“ Emir Tebatebai. 

Auch wenn nicht alles überzeugt: Radikal rücken alle neun Stücke bei „Impulse“ in Erinnerung, dass Theater nicht nur aus dem Verwalten von Spielplänen, Finanzen und bürgerlichen Repertoirepflichten besteht. Nicht durch Zufall erinnert vieles an Konzeptkunst, in der mit Zuschauerwahrnehmung und Sehgewohnheiten experimentiert wird.. Ästhetiken, die im Stadttheater kaum entwickelt werden könnten. Von den großen Institutionen werden sie dann später übernommen.

kultur.ARD.de, 29. November 2007

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