„Illyrien an der Autobahn“. Berliner Zeitung, 22. Februar 2005

Veröffentlicht von Thomas am

THEATERLEBEN

VON ULRICH SEIDLER

Ah, endlich funktioniert es: Eine weite, leere Bühne unter weitem, leerem Plafond. Nichts begrenzt den Blick. Gezwitscher wird eingespielt, ein Tageslichtscheinwerfer hebt sich, fern kreischt das verrostete Kurbelstativ. 

Doch nein, wir sind nicht im Theater. Es ist ein Hahn, der kreischt, ein Hühnermann aus Fleisch und Blut. Es sind naturbelassene Piepmätze, die singend das Morgenlicht begrüßen, mit dem die Sonne nicht die Bühne, sondern das weite, leere Land der Prignitz überschüttet. Frisch aus den Betten, Theaterfreunde! Es tagt, das heißt, die Probe hat begonnen. Beseelte Schauspieler reiben sich die schönsten Träume aus den Wimpern, springen über die betaute Wiese und können ihre Glücksjuchzer nicht unterdrücken. Warum sollten sie auch? Sie sind im Theaterfreunde-Glücksland: In Streckenthin, nicht weit von Wittstock. 

Dort, wo Menschen so rar sind, dass die Gegend in manchen Statistiken als unbewohnt gilt, wollen der Regisseur Peter Zadek und der scheidende Intendant des Hamburger Schauspielhauses Tom Stromberg die Shakespeare-Theaterproduktionsstätte „My Way“ (denselben Titel trägt Zadeks Autobiografie) errichten: Im September 2006 schon wird „Was ihr wollt“ in ‚Bochum herauskommen mit Susanne Lothar, Eva Mattes und Angela Winkler. Viola, von mörderischer Sturmsee auf den Strand gespuckt, fragt: „Was für ein Land, Freund, ist das?“ – „Das ist Illyrien, Lady“, antwortet ein Kapitän. Illyrien mit Autobahnanschluss. 

Nie wieder kameralistische Rechenschiebereien, nie wieder dispositionelle Konflikte mit anderen Produktionen, nie wieder Sesselfurzermentalität in den Gewerken – sondern reines, von der Wirklichkeit ungestörtes Welt-Schöpfen in den eigenen (Strombergs) vier Wänden, auf eigenem (Strombergs) Grund und Boden. Das Gutshaus, das der Intendant zusammen mit Freunden erwarb, verfügt über 22 Zimmer, eine Probenhalle gibt es auch. Völlig unter sich möchte man dabei nicht bleiben, sondern junge Theaterfreunde ausbilden. Genauso wenig wie über fehlenden Platz, muss man sich über fehlendes Geld den Kopf zerbrechen. Das kommt von den Theater-Festivals aus Wien, dem Ruhrgebiet und Berlin. Zadek zieht überall. Er wird 80 im nächsten Jahr und erfüllt sich in Streckenthin, wie er sagt, einen Kindertraum: „Mit dem Zirkuswagen herumfahren, mit eigener Truppe, und Shakespeare spielen.“ Shakespeare-Spielen ist aber nicht nur ein Traum, sondern die einzige angemessene Alternative zum wirklichen Leben. Ob Welt oder Bühne, ob Sonne oder Scheinwerfer, ob Mensch oder Schauspieler. Wer Shakespeare verinnerlicht hat, für den ist es sowieso ganz unnötig, diese Dinge auseinander zu halten.

Berliner Zeitung, 22. Februar 2005

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