„Kunsthandlung mit Küchenhilfe. Wie Tom Stromberg, der künftige Chef des Deutschen Schauspielhauses, das Hamburger Publikum erobern will“ Die ZEIT, 23.März 2000

Veröffentlicht von Thomas am

von Gerhard Jörder

Es gibt doch nichts Wunderbareres als ein Ensemble!“ Tom Stromberg springt auf und strahlt. Er setzt das glücklichste Lächeln auf, das besitzstolze Intendanten überhaupt lächeln können. Und noch einmal präsentiert er dem Besucher, am Ende des langen Gesprächs, die Porträtgalerie, die an die kahle Wand des Konferenzraums gepinnt ist. Rund 30 Schauspieler und Schauspielerinnen sind in Fünferkolonnen aufgereiht. Ein paar altvertraute und prominente Gesichter darunter, Ilse Ritter etwa und Marlen Diekhoff, die dem Deutschen Schauspielhaus also weiterhin angehören werden, aber auch zahlreiche neue, unbekannte und auffällig viele junge. Strombergs Zeigefinger springt von Foto zu Foto: Aus Bochum! Aus Köln! Aus Hannover! Bei einigen Akquisitionen verharrt er länger: etwa bei Alexander Simon, der sich aus der Wiener Burg hat weglocken lassen, bei Samuel Weiss, der gegen Ende der ersten Spielzeit aus Stuttgart dazustoßen wird. In Hamburg werden sie zu den neuen Protagonisten im Team gehören.
Tom Stromberg weiß, worauf es jetzt ankommt für ihn – und sein Bild in der Öffentlichkeit. Er weiß, dass der künftige Intendant der größten deutschen Bühne, Nachfolger des erfolgreichen Frank Baumbauer, bei seinem Start im Oktober 2000 nicht nur mit geballter Neugier, sondern auch mit Skepsis, ja offenem Misstrauen rechnen muss. Denn vielen in der Theaterwelt gilt der 39-Jährige, trotz seiner unbestritten kreativen Direktionsjahre am Frankfurter Theater am Turm (TAT) von 1986 bis 1996, inzwischen als Prototyp des glatten, standpunktlosen Kulturmanagers: cool, clever, instinktsicher, durchsetzungsstark – aber ohne Sensus für Tradition; ohne wirkliches Interesse am ästhetischen Gegenstand. Und er steht unter einem Generalverdacht, den kürzlich auch Jürgen Flimm, der scheidende Hamburger Thalia-Prinzipal, in einem Interview erneuerte: dem des potenziellen Ensemblevernichters. Nicht wenige argwöhnen, der künftige Chef des Deutschen Schauspielhauses sei bereit, zugunsten eines bunten. internationalen Gastspiel-Event-Betriebs, wie er ihn schon am TAT auf Touren brachte, das Ensemble, die Seele des deutschen Stadt- und Staatstheaters, zu opfern. Zumindest à la longue. 
Es ist ja auch gar nicht zu leugnen: Stromberg baut Personal ab. Nicht mehr 37 Schauspieler wie noch bei Baumbauer, nur knapp 30 erhalten feste Verträge: Die finanziellen Vorgaben der Politik, sagt er, lassen ihm keine andere Wahl. Doch akzeptiert er sie (und macht sich sogleich auf die Suche nach Sponsoren), akzeptiert ausdrücklich die Festschreibung der 36,2-Millionen-Subvention auf drei Jahre und die zusätzliche Auflage, die Tariferhöhungen, jedenfalls bis zur Höhe von zwei Prozent, aus eigenen Kräften aufzufangen. Auch in Technik und Verwaltung hat er eingespart, rund 40 von 400 Positionen. Vertretbar findet er auch dies – und als Strukturmaßnahme sogar sinnvoll. Das deutsche Theatersystem halte stets die Personalkapazität „für den Super-GAU“, für den schlimmsten Tag des Jahres bereit. Wir fahren das jetzt runter“, sagt Stromberg. In Spitzenzeiten wird man sich auf dem freien Markt Verstärkung holen.
Ist also, angesichts der harten Fakten, die aktuelle Liebeserklärung an das Ensemble ausschließlich taktisch zu verstehen? Eine Beruhigungspille für die besorgte Theateröffentlichkeit? Stromberg bestreitet das vehement. Alles Unterstellung, sagt er, alles falsch. Er meine es ernst mit der Kontinuität. Drei Regisseure hat er daher fest ans Haus gebunden – Jan Bosse, Ingrid Lausund und Ute Rauwald, drei starke Talente, „sehr junge, zugegeben“, zuständig für je zwei Inszenierungen. Mit ihnen will er nicht nur sein Repertoire aufbauen, sondern auch jenes großstädtische, experimentierfrohe Probiertheater verwirklichen, das ihm für Hamburg vorschwebt. Je eine Arbeit verantworten der Jungstar Stefan Pucher (Tschechows Möwe), das englische Struwwelpeter-Tandem Phelim McDermott/Julian Crouch sowie die beiden alten TAT-Mitstreiter Heiner Goebbels und Jan Lauwers, Leiter der belgischen Needcompany. Dazu, als einzige Adresse der „Großregie“: Peter Zadek. Sein Hamlet mit Angela Winkler soll in Hamburg noch einmal en suite zu sehen sein, in der zweiten Spielzeit wird der Großmeister den Juden von Malta inszenieren.

Spezialist für Crossover? Aber bitte keine Soße!
So vertraut Stromberg, mit beträchtlicher Bereitschaft zum Wagnis, tatsächlich vor allem seinen festangestellten Hoffnungsträgern. Der Anteil der Gastspiele dagegen soll „verschwindend“ sein – und meist in engem Zusammenhang mit jenen Namen stehen, die ohnehin den Regiestamm des Hauses ausmachen: Goebbels wird eine ganze Werkschau gewidmet sein; Lauwers‘ Brüsseler Lear soll als Ergänzung zu seinem Hamburger Sturm gastieren. Keine Beliebigkeiten, keine Zufallsimporte: „Ich bin nicht der, der mal da, mal dort shoppen geht.“
Überhaupt reagiert der designierte Intendant, der gemeinsam mit dem künftigen Thalia-Chef Ulrich Khuon für den großen Neubeginn an den beiden führenden Hamburger Schauspielbühnen sorgen soll, inzwischen leicht gereizt auf „die Klischees“, die über ihn im Umlauf sind. Gründlich leid ist er das Image des hyperaktiven Handy-Man, das ihm – spätestens – seit seiner Berufung zum Leiter des „Kultur-und Ereignisprogramms“ der Weltausstellung in Hannover anhängt. Er will nicht mit einem dieser superschnellen, mehr an Bilanzen als an Inhalten interessierten Machertypen verwechselt werden. „Zweieinhalb Jahre haben die Expo-Manager mit allen Mitteln versucht, mir den Steinschen Faust auszureden. Niemand will so etwas sehen, höhnten sie, das dümmste Projekt, das man sich für eine Weltausstellung ausdenken kann! Und jetzt? Jetzt, wo der Erfolg da ist, nach dem ungeheuren Run auf die Karten, sagen die gleichen Leute: 22 Stunden Goethe, das ist ja totale Avantgarde.“ Stromberg pur: Wenn schon Kulturmanager- dann der, der sich zuletzt ins Fäustchen lacht …
Innovationen, Strömungen, Trends – dafür fühlt er sich zuständig. Aber auch hier ist er jetzt auf der Hut, wehrt schnelle Etikettierungen ab. Eine TAT-Fortschreibung für Hamburg? Spezialist für Crossover? Das sei ihm zu billig. Natürlich wird er, Stichwort „zeitgenössische Kunst“, in seinem Haus die unterschiedlichen Ästhetiken kreuzen und konfrontieren, Literatur, Tanztheater, Performance, Installation, Musiktheater- „aber bitte keine Soße!“ Stromberg plädiert für einen neuen Purismus, Spartentrennung unter einem Dach: zunächst die einzelnen Künste isoliert betrachten, dann erst untersuchen, „wo sie sich berühren“. Eine modische Melange- das lehne er ab.
Ein Kernstück des Spielplans soll daher das Projekt „Schreibtheater“ werden, das der Dramaturg Andreas Beck (bisher Stuttgart) federführend betreut. Stromberg wäre nicht Stromberg, wollte er sich nicht auch hier an die Spitze einer Entwicklung setzen, die als „Neuentdeckung des Autors“ mittlerweile das ganze deutschsprachige Theater erfasst. Stärker noch als an Ostermeiers Berliner Schaubühne sollen Gegenwartsdramatiker, möglichst internationalen Zuschnitts, in die praktische Theaterarbeit integriert werden. Vier junge „Authors in Residence“ (der Franzose Lionel Spycher, der Argentinier Rafael Spregelburd, die Schwedin Lucia Cajchanová und der Deutsche René Pollesch) werden ein Jahr in Hamburg leben, arbeiten und Texte fürs Haus schreiben. Zusätzlich werden Stückaufträge nach draußen vergeben; zur Eröffnung gibt es Helmut Kraussers Haltestelle. Geister. Geplant ist auch ein 14-tätiges Autorenseminar nach dem Muster der Royal Court Summer Residency in London: Theatertexte im Zerreißtest, gemeinsame Diskussionen mit Regisseuren und Dramaturgen, szenisches Proben. Und schließlich, damit auch kein Talent unentdeckt bleibe: ein spezielles Debütantenprogramm für Jugendliche. Beck ahnt natürlich, dass, allem ehrlichen Schweiß zum Trotz, nun nicht nur Meisterwerke auf den Tisch der Hamburger Dramaturgie prasseln werden. Aber warum nicht, fragte er, auch einmal nur Texte für ein rasches Gebrauchstheater? Warum nicht „mal was für eine halbe Stunde“?
Für solche Probierstücke wird es in Strombergs Theater die geeigneten Räume und Anlässe geben – nicht zuletzt dank eines gastronomischen Konzepts, in dem sich am augenfälligsten die Öffnung zur Stadt manifestiert. Ein Kaffeehaus im Marmorsaal, tauglich für kleine Schauspielerauftritte, eine Espressobar in der Kassenhalle, eine Club-Bar im verglasten und beheizten Schlauch zum Malersaal, ein Restaurant in der Kantine: Mit vier Lokalen, in die ein Pächter jetzt eine halbe Million investiert, gibt sich das Haus tagsüber und bis in die Nacht geradezu aufreizend besuchernah; das Klappern (der Teller und Gläser) gehört zum Handwerk. Gern bezeichnet sich der neue Hausherr als „Gastgeber“, gern spricht er von „gastronomischer Bespielung“. 
Und weil Stromberg ideologische Barrieren zwischen Kunst und Konsum ohnehin nicht akzeptiert und gute Lust hat, nebenbei ein paar alte Zöpfe des Theaters zu kappen, will er seinem Publikum auch kein „Abonnement“ anbieten: „Für einen 25-Jährigen klingt das fast schon wie Rotary Club.“ Das künftige Bindemittel heißt daher: Schauspielhaus-Card. Sie ist das Resultat eines ausgeklügelten Ermäßigungssystems und neuer Kooperationen in der Stadt. Sie rabattiert Karten und Verzehr im eigenen Haus, schafft freien Eintritt in den Deichtorhallen und der Galerie der Gegenwart, verbilligt Staatsopernbesuch, Bücherkauf und Presseabos. Das Ganze unter 200 Mark, automatenlesbar. Einige tausend dieser Cards hofft Stromberg an den Mann zu bringen. „In dieser Stadt ist noch was drin“, glaubt er – und setzt dabei, bekennender Optimist, der er ist, und unabgeschreckt von den Auslastungsnöten, mit denen zeitweise selbst Baumbauer zu kämpfen hatte, vor allem auf eine jüngere Laufkundschaft, aber auch auf eine an moderner Kunst interessierte Klientel. Seine Devise: Kooperieren! Mobilisieren! Vernetzen!
So ist Stromberg: Stagnation hasst er, Risiko sucht er, Öffnung ist sein Zauberwort. Das Programm der Aktivitäten, das er jetzt für Hamburg auffächert, ist ein erstaunlicher, fast schon verwegener Mix aus Spielabenteuer, Strukturexperiment und Marketingstrategie. Bewegen will er um jeden Preis – und ist bereit, dies zu finanziellen Bedingungen zu tun, die andere zunehmend für unzumutbar halten. Die Klagen und düsteren Szenarien der Großintendanten in Hamburg oder Berlin hält er für übertrieben – rituell abrufbare Erregung. „Ich kann mit meinen 36,2 Millionen gutes Theater machen. Etwas anderes zu behaupten, empfände ich als unangenehm.“ Kein Wunder, wenn so einer manchen Kollegen als beflissener Kollaborateur der Politik, den Politikern aber als Mann der Zukunft gilt.

Die ZEIT, 23. März 2000

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